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Kein Dynamit, doch Gold für NS-Vermarkter

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Jubel bei den Schatzgräbern in den Papierbergen der Zeitgeschichte: Sie stießen wieder einmal auf Gold. Denn Gold sind die in Moskau aufgetauchten, bisher unbekannten Tagebuch-Aufzeichnungen von Hitlers Reichspropagandaminister Joseph Goebbels tatsächlich.

Sogar „Hundert Prozent reines Gold, absolutes Dynamit", wie der englische Mittelsmann David Irving in einem Verkaufsgespräch mit einem chemisch schiefen, für die Intentionen der Zeitgeschichte-Vermarkter aber sehr aufschlußreichen Bild gesagt haben soll.

Was den Inhalt betrifft, soweit erste Auszüge und der Beginn einer Serie im „Spiegel" Schlüsse gestatten: Da wird nun wohl tatsächlich zum x-ten Mal bewiesen, was jeder, der es wissen will, längst weiß. Daß Hitler von der Verfolgung der Juden nicht nur wußte, sondern sie befahl. Daß Goebbels nicht nur Propagandist war, sondern mindestens bei den November-Pogromen von 1938 auch Befehle weiterleitete. Daß die Erpressung des britischen Premierministers Neville Chamberlain in München und die Vernichtung der Tschechoslowakei auch für die Obernazis selbst eine Zitterpartie war. Es handelt sich also wohl doch nicht um Dynamit, sondern Gold, gut vermarktbaren Lesestoff, für die Forschung allenfalls in Details wie der Goebbels-Selbsteinschätzung als „Demagoge schlimmster Sorte" interessant.

Aufschlußreich ist das Drumherum. Etwa, daß das neue Rußland derlei Material ausgerechnet dem NS-Apologeten Irving anvertraut. Oder der kleine Copyright-Vermerk im „Spiegel": „Für die Originalzitate 1992 by Francois Genoud, Schweiz". Deutsche Gerichte tragen die Verantwortung dafür, daß Genoud, auch er NS-Apologet und dem Vernehmen nach Schweizer NS-Mittelsmann schon im Krieg, auf dem Höhepunkt deutschen Vergessens 1954 trotz des von den Alliierten ausgesprochenen Verfalls von NS-Vermögen die gesamten Urheberrechte nach Goebbels, rechtsgültig oder allenfalls mit ungeheuren Prozeßkosten widerlegbar, an sich bringen konnte.

Goebbels selbst verkau/te die Rechte an den NS-Verlag Eher, wodurch sie auf den bayrischen Staat übergingen, ein Teil ist behördliches Schriftgut. Aber niemand will mit dem Schweizer Privatbankier, der auch die Verteidigung des Massenmörders Klaus Barbie finanzierte, prozessieren.

Offenbar haben sich „Daily Mail" und „Spiegel" mit ihm geeinigt, während es die „Sunday Times" auf einen Prozeß ankommen läßt. Immerhin besteht Genoud nicht mehr, wie noch 1971, auf Vorwörtern aus eigener Feder, in denen er Goebbels pries und Goebbels kritisierende Historiker beschimpfte.

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