Sibylle Lewitscharoff: Das Unsägliche sagen

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Sibylle Lewitscharoff wollte den Machbarkeitswahn kritisieren, hat Retortenbabys entmenschlicht - und einen Shitstorm ausgelöst. Ist sie ein weiblicher Sarrazin?

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Sibylle Lewitscharoff wollte den Machbarkeitswahn kritisieren, hat Retortenbabys entmenschlicht - und einen Shitstorm ausgelöst. Ist sie ein weiblicher Sarrazin?

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Es war Sonntag, der 2. März. Am Berliner Ensemble machten ein paar Krawallmacher Thilo Sarrazin die Freude, ihn lautstark an der Präsentation seines Buches "Der neue Tugendterror“ zu hindern - und damit seine These zu bestätigen, er sei das arme Opfer einer vermeintlich gleichgeschalteten, linken Diskursmafia. 190 Kilometer weiter südlich, auf der Bühne des Schauspielhauses Dresden, durfte Sibylle Lewitscharoff indessen ungehindert sprechen. Die viel gerühmte Dichterin und Religionswissenschafterin, die für ihre Sprachmacht und ihren Wortwitz 2013 den Büchnerpreis bekam, hielt eine über weite Strecken berührende, gegen Ende freilich immer verstörendere Rede. Sie erzählte von den Verheerungen, die der Selbstmord ihres Gynäkologenvaters über die Familie brachte, von der "weiblichen Selbstermächtigung“ und der Parole "Mein Bauch gehört mir!“, die sie schon in den 1970er-Jahren unsäglich fand, und vom "gegenwärtigen Fortpflanzungsgemurkse“, dessen Erzeugnisse sie nicht als Kinder, sondern als "Halbwesen“ betrachte - als "zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“. Das sei natürlich ungerecht gegenüber den Kindern, relativierte Lewitscharoff. "Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“

"Darf ich nicht sagen, was ich denke?“

Das Publikum klatschte trotzdem. Erst ein paar Tage später geriet die Rede zum Skandal - und die hochgeschätzte Büchner-Preisträgerin ins Auge eines medialen Shitstorms. Den "Halbwesen“-Satz hat sie daraufhin zurückgenommen; an ihrer grundsätzlichen, religiös grundierten Skepsis gegenüber "bestimmten medizinischen Machinationen“ hielt sie jedoch gegenüber der Frankfurter Allgemeinen fest. Und überhaupt: "Darf ich in einer Rede nicht sagen, was ich denke?“

Diese Frage war nicht kokett gemeint - wie bei Thilo Sarrazin, der das Spiel mit der öffentlichen Empörung beherrscht wie kein Zweiter. Dass der ehemalige deutsche Bundesbanker und nunmehrige Berufsprovokateur wehleidig über "Tugendterror“ klagt, während sein Buch die Bestsellerlisten stürmt, findet eine wie Lewitscharoff vermutlich ziemlich widerwärtig. Nein, die wortmächtige Schwäbin spielt nicht mit der Öffentlichkeit, sie meint es völlig ernst. Aus ihrer Frage spricht eher die Entgeisterung einer, die sich plötzlich im falschen Film wiederfindet.

Überforderung durch den medizinischen Fortschritt

Das ist für sie persönlich tragisch - und unendlich schade für die Debatte. So mancher Aspekt ihres Unbehagens wäre es nämlich wert gewesen, ernsthaft diskutiert zu werden: etwa das Szenario vom Verschwinden des Vaters aus der Erziehung und seine Reduktion auf den Samenspender durch die moderne Reproduktionsmedizin; oder die moralische Überforderung durch den medizinischen Fortschritt, der den Einzelnen am Beginn wie am Ende des Lebens vor Entscheidungen stellt, die er kaum guten Gewissens treffen kann (vgl. Seite 13).

Allein diese Rückfragen, die bei Lewitscharoff auf dem Boden eines radikal-konservativen Welt- und Menschenbildes keimen, gelten heute für viele als "unsäglich“. Umso mehr hätte sie als Meisterin der Sprache auf ihre Wortwahl achten müssen, um nicht (wie Thilo Sarrazin) nur mediale Empörungsreflexe zu bedienen. Sie hätte auch wissen müssen, dass bei einer dezidiert ernsthaften "Rede zur Zeit“ andere Regeln gelten als in ihrem furios-witzigen Tiraden-Roman "Apostoloff“. Dennoch hat sie neben ihrem Unbehagen auch ihre Abscheu in ihre Rede gepackt - und sich mit ihrer Entmenschlichung von Retortenbabys selber aus dem Spiel genommen.

Sibylle Lewitscharoff habe "die Literatur immer als metaphysischen Brandbeschleuniger benutzt, um die Feuer der Hölle wie die Himmelsglut zum Leuchten zu bringen“, würdigte sie Ijoma Mangold im Juni 2013 nach der Zuerkennung des Büchner-Preises in der Zeit. Im öffentlichen Diskurs hingegen wirkt Sprache als Brandbeschleuniger leider Gottes verheerend.

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