Einspruch, Frau Lewitscharoff!

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Kritik am reproduktionsmedizinischen Machbarkeitswahn ist durchaus berechtigt. Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Schimpf-Tirade nicht.

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Kritik am reproduktionsmedizinischen Machbarkeitswahn ist durchaus berechtigt. Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Schimpf-Tirade nicht.

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Literaten dürfen schimpfen und haben es immer schon getan. Literarische Wutausbrüche sind dabei nicht nur Mittel der Selbstinszenierung, sondern legen auch den Finger auf gesellschaftliche Wunden und stoßen überfällige Debatten an.

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Auch der deutschen Autorin Sibylle Lewitscharoff sei daher das Recht zugestanden, zu einem Rundumschlag gegen aktive Sterbehilfe und Abtreibung, Feminismus und medizinisch assistierte Fortpflanzung auszuholen. Sie tut dies in ihrer "Dresdner Rede“ (siehe Kasten) dezidiert unter Berufung auf ihren katholischen Glauben und auf persönlich äußerst schmerzvolle Kindheitserlebnisse, die sie mit großer sprachlicher Eindrücklichkeit schildert. Schlichtweg hässlich und menschenverachtend sind jedoch die Passagen, in denen die Büchner-Preisträgerin von 2013 eine Schimpftirade auf die moderne Reproduktionsmedizin anstimmt. Hier schwingt sie so ziemlich die primitivsten Keulen, mit denen man das Thema niederprügeln kann: "Herr und Frau Doktor Frankenstein“, "egoistische Lesben, die arme Leihmütter ausbeuten“, Reproduktionskliniken als neue "Kopulationsheime in der Tradition des Nationalsozialismus“, in vitro gezeugte Kinder als monströse "Halbwesen“ usw. usw.

Technologie mit Nebenwirkungen

Auf dieser sprachlichen und argumentativen Basis ist keinerlei Diskussion mehr möglich. Leider, möchte man als theologische Ethikerin hinzufügen. Denn es ist unbestritten, dass medizinisch assistierte Fortpflanzung und mit ihr verbundene Technologien wie insbesondere die Präimplantationsdiagnostik (PID) erhebliche ethische Probleme mit sich bringen. Seit Jahrzehnten ringen Ethikerinnen und Ethiker aus Theologie und Philosophie, aber auch Juristen, Mediziner, Sozialwissenschafter und Politiker um einen angemessenen Standpunkt. Viel steht dabei auf dem Spiel: der Herzenswunsch von Paaren nach einem Kind und damit die individuelle Suche nach einem geglückten Leben; das Wohl des Kindes selbst und die Gefahr einer schleichenden neuen Eugenik; normative Leitvorstellungen zur Gestaltung gesellschaftspolitischer und ökonomischer Rahmenbedingungen, Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen sowie Gerechtigkeitsfragen.

Wer mit dem Diskurs über Reproduktionsmedizin im deutsch- und englischsprachigen Raum vertraut ist, kennt die Fronten, die sich auftun: Auf der einen Seite ein Beharren auf "reproduktiver oder prokreativer Selbstbestimmung“, die so ziemlich alles rechtfertigt, was nur irgendwie zur "Erzeugung“ eines Kindes führt. Auf der anderen Seite die Mahnung einer religiös und säkular begründeten Ethik, die Rede von den reproduktiven Rechten durch die Rede von den Pflichten und der Verantwortung für ein Kind abzulösen.

Lewitscharoffs Kritik an Machbarkeitswahn und menschlicher Hybris ist also nichts Neues und durchaus berechtigt. Der unzulässige Schluss vom "Wunsch nach einem Kind“ auf das "Recht auf ein Kind“ kann und muss tatsächlich kritisiert werden - übrigens nicht aus christlich-religiösen Gründen, sondern aus allgemein vernünftigen. Man muss auch keineswegs religiös sein, um der in Deutschland mittlerweile eingeführten und hierzulande noch verbotenen PID mit ethischen Bedenken zu begegnen. Nicht umsonst hat Jürgen Habermas, der sich selbst explizit als "religiös unmusikalisch“ bezeichnet, schwerwiegende Einwände gegen eine sich in der PID manifestierende liberale Eugenik vorgebracht, welche die natürliche Unverfügbarkeit menschlichen Person-Seins durch Aussortierung und Manipulationsmöglichkeiten gefährdet.

Eine feministische oder zumindest geschlechtersensible säkulare und religiös begründete Ethik wird ferner darauf hinweisen, dass die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die in der Reproduktionsmedizin mittransportiert werden, durchaus fragwürdig sind: Männer als möglichst potente Samenlieferanten, die sich nicht weiter um ihren Nachwuchs kümmern, und Frauen, die ihren Selbstwert allein aus der traditionellen Rolle der Mutter beziehen - dies alles sind Argumente, die im ethischen Diskurs über Reproduktionsmedizin seit vielen Jahren vorgebracht werden. Das von Lewitscharoff zitierte christliche Menschenbild, das hier ihrer Meinung nach ein für alle Mal Klarheit schafft, wird von ihr ebenso instrumentalisiert wie eine vernünftige Diskussion über Reproduktionsmedizin diskreditiert wird. Dagegen gilt es Einspruch einzulegen - vor allem seitens einer theologischen Ethik, die sich diesem christlichen Menschenbild als Grundlage ihrer Argumentation verpflichtet weiß.

Es geht letztlich nicht um theoretische Gedankenspielereien oder persönliche Meinungen, sondern um Paare und insbesondere auch um Frauen, die eine verantwortete und äußerst schwierige Entscheidung treffen müssen: Nehmen wir In-vitro-Fertilisation (IVF) und vielleicht auch PID in Anspruch oder nicht? Wie weit gehen wir? Was tun wir, wenn die Versuche ergebnislos bleiben? Versuchen wir es mit alternativen Methoden? Oder verzichten wir auf die Erfüllung unseres Kinderwunsches?

Kinder als nicht zu erzwingendes Geschenk

Theologische Ethikerinnen und Ethiker aller christlichen Konfessionen verweisen auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit, der ein Kind als Geschenk begreift, das nicht erzwungen werden kann. Auch das Lehramt der katholischen Kirche argumentiert vor dem Hintergrund dieses Gedankens in seinen beiden großen Stellungnahmen zum Thema - "Donum Vitae“ (1987) und "Dignitas Personae“ (2008) - und lehnt IVF in all ihren Formen deutlich ab. Für das Lehramt wird bei der IVF erstens die Personalität des Embryos missachtet. Zweitens wird die Einheit von Fortpflanzung und Ehe zerstört. Der selbstverständliche Respekt vor der Gottebenbildlichkeit eines IVF-gezeugten Kindes wird von dieser Argumentation allerdings nicht tangiert, im Gegenteil: Das Lehramt fordert ihn in "Donum Vitae“ explizit ein.

Bei aller Skepsis theologischer Ethik gegenüber der IVF ist jedoch auch klar, dass es mit einem strikten Nein nicht getan ist. Paare mit unerfülltem Kinderwunsch müssen letztlich eine selbst verantwortete, persönliche Entscheidung treffen. Doch dazu brauchen sie endlich ein - bislang kaum existierendes - umfassendes Beratungsangebot, das nicht nur soziale, sondern auch ethische Aspekte abdeckt. Hier herrscht ein großer Bedarf an Aufklärung und Orientierungshilfe. An dieser Stelle hätte Frau Lewitscharoff durch klare Worte in der Öffentlichkeit einen wirklich konstruktiven Beitrag leisten können. Ihr Ausbruch hat diese Chance leider zerstört.

Fakt

"Dresdner Rede" mit Folgen

"Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ lautete der Titel jener Rede, die Sibylle Lewitscharoff am 2. März im Schauspielhaus Dresden hielt. Die 1954 in Stuttgart geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin sprach darin u. a. von ihrer "Abscheu“ gegenüber dem "gegenwärtigen Fortpflanzungsgemurkse“. Sie sei geneigt, "Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen“, als "zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“ Zum Skandal wurde die Rede erst drei Tage später, als Chefdramaturg Robert Koall in einem Offenen Brief von "gefährlichen Worten“ sprach. Es folgte ein medialer Shitstorm. Zumindest der "Halbwesen“-Satz tut Lewitscharoff mittlerweile leid: Er sei "zu scharf“ ausgefallen, meinte sie gegenüber dem ZDF. "Ich möchte ihn sehr gerne zurücknehmen.“ (dh)

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