Rationaler Diskurs statt moralischer Entrüstung

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Ulrich Körtner versucht eine Gratwanderung zwischen Offenheit gegenüber medizinischem Fortschritt und nötiger Skepsis.

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Ulrich Körtner versucht eine Gratwanderung zwischen Offenheit gegenüber medizinischem Fortschritt und nötiger Skepsis.

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Nein - einfache Antworten darf man sich in der medizinischen Ethik nicht erwarten. Wenn es um verbrauchende Embryonenforschung oder Transplantationsmedizin geht, gibt es kein christliches Patentrezept für jeden ethischen Einzelfall. Auch der evangelische Theologe Ulrich Körtner hat keines. Nicht umsonst hat Körtner, Mitglied der neu eingerichteten Bioethik-Kommission von Bundeskanzler Schüssel und Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Fakultät der Universität Wien, den Titel seiner gesammelten Aufsätze "Unverfügbarkeit des Lebens?" mit einem Fragezeichen versehen. Denn angesichts des rasanten Fortschritts in Biowissenschaften und Medizin ist es fatal, sich in traditionalistische Formeln zu flüchten nach dem Motto: "Wir dürfen unserem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen." Zu groß ist die Verantwortung, vor der die Gesellschaft bereits steht. Auch Christen können sich nicht mehr vor ihr drücken, indem sie stereotyp darauf verweisen, dass menschliches Leben von Gott geschaffen, heilig und jedem Zugriff von vornherein entzogen sei.

Eine mühsame Einarbeitung in die nicht immer ganz einfache Fachsprache und Gedankenführung medizinischer Ethik bleibt niemand erspart, der als kompetenter Gesprächspartner von Medizin und Forschung ernstgenommen werden will. Die Mühe lohnt sich aber zumindest bei Körtners Buch auf jeden Fall. Denn die Argumente christlicher Ethik müssen auch für Nichtgläubige nachvollziehbar sein. Gerade sie kommen aber in vielen aktuellen Fernsehbeiträgen angesichts atemberaubender neuer technischer Möglichkeiten und ausgeprägtem Machbarkeitswahn oft zu kurz. Es sind Fragen wie: Was heißt "menschenwürdig" sterben? Gibt es die in der Euthanasie-Debatte vielbeschworene Autonomie überhaupt? Welche heilsutopischen Erwartungen weckt moderne Medizin, wenn sie das baldige Ende vieler Krankheiten verheißt und behindertes Leben durch Embryonenauslese ausschließen will? Welchen Preis bezahlt eine Gesellschaft für die Illusion einer leidfreien Welt?

Bei der Diskussion solcher Fragen hat christliche Ethik mit ihrem Bekenntnis zur Solidarität mit Behinderten, Kranken und Alten einen unersetzlichen Stellenwert. Körtner argumentiert daher mit großem Selbstbewusstsein, ohne jemals in Polemik abzugleiten. Wohltuend bleibt er sogar in der harten Konfrontation mit dem Utilitarismus des australischen Philosophen Peter Singer stets seiner Linie treu: Moralische Entrüstung ist nie mit einem rationalen ethischen Diskurs zu verwechseln.

Dieses Leitprinzip macht seine Aufsätze so sachlich und informativ. Auch vor eigenen und durchaus angreifbaren Positionen scheut er nicht zurück: So hält er es für vertretbar, "überzählige" Embryonen aus der medizinisch unterstützten Fortpflanzung zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen zu verwenden - sofern das ethisch akzeptablen Zwecken dient und nicht der Embryonenzüchtung. Gleichzeitig lässt er den Leser aber stets an seinen Abwägungen teilhaben und versäumt es nicht, auf die Grenzen seiner eigenen Argumentation hinzuweisen. So werden auch kritische Leser spüren: Hier ringt ein christlicher Ethiker um die richtigen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Er ist sich bewusst, dass theologische Begriffe wie "Schöpfung" angesichts Gentechnik, medizinisch unterstützter Fortpflanzung und Klonen neu gedacht werden müssen. Er versucht eine schwierige Gratwanderung zwischen Offenheit gegenüber medizinischem Fortschritt einerseits und nötiger Skepsis andererseits. Hoffentlich hört die neue Bioethikkommission auf solche Stimmen. Derart originelle und nachvollziehbare Beiträge der Theologie zu Grundfragen der Bioethik wünscht man sich öfter.

Die Autorin ist Referentin für Moraltheologie beiden Theologischen Kursen der Erzdiözese Wien.

Unverfügbarkeit des Lebens?

Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik. Von Ulrich H. J. Körtner. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 2001, 143 Seiten, TB, öS 218,-/ e 15,84

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