Mit der Katastrophe völlig überfordert

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Österreich war in Aufruhr: Am 4. Mai 1986 sollte ein neuer Bundespräsident gewählt werden. Der Wahlkampf der Sozialisten für Ex-Gesundheitsminister Kurt Steyrer gegen den für die ÖVP antretenden ehemaligen UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim hatte das Land tief gespalten. Die Auseinandersetzung um Waldheims Kriegsdienst hatte wüste gegenseitige Verunglimpfungen ausgelöst, dazu eine Debatte um Kriegsschuld und Vergangenheit. Zum Auftakt der letzten Woche Wahlkampf meldete die APA am Montag, 28. April, um 19.34 Uhr: "Unfall in sowjetischem Kraftwerk. Reaktor beschädigt.“

Die Katastrophe von Tschernobyl hatte sich in der Nacht auf Samstag, 26. April, um 1.23 Uhr ereignet, doch noch am Dienstag, 29. April, hieß es vormittags in den Agenturen, die Lage in Tschernobyl sei "völlig unklar“. Erst am Nachmittag des 29. April kam die EILT-Meldung: "GAU im Atomkraftwerk in Tschernobyl“. Österreich, dessen öffentliches Bewusstsein zum Thema Kernenergie 1978 ausgesetzt hatte, war mit einer GAU-Meldung konfrontiert - und überfordert.

Wind und Wetter waren günstig für Wien

Am Mittwoch, 30. April, wurden in Österreich erhöhte Strahlenwerte registriert. Die Gamma-Strahlung in Wien erreichte das Doppelte des normalen Niveaus, lag aber erst bei einem Hunderstel des für ein Menschenleben zulässigen Höchstwertes. Doch in Kärnten wurde bereits empfohlen, Kinder in geschlossenen Räumen zu belassen.

"Kein Grund zur Panik“, sagte Gesundheitsminister Franz Kreuzer. Man möge nur kein frisches Regenwasser trinken. Die Unsicherheit in der Öffentlichkeit nahm folglich zu. Journalisten und Ministersekretäre konsultierten ihre Schulbücher und Lehrer: Was bedeuten Curie und Röntgen? Wie lange ist Salat zu waschen, wenn die grünen Blätter - wie zu sehen war - Geigerzähler vor TV-Kameras knattern liessen? In dieser sehr verwirrenden, von einem Mangel an Information und Wissen geprägten Situation war nur eines sicher: Der Mai-Aufmarsch der SPÖ in Wien wird nicht abgesagt.

Rund 37.000 Personen kamen zur Kundgebung. Das Wetter - kein Regen- war günstig. Ein Experte hatte zuvor bestätigt, die über Österreich liegende Strahlung sei geringer als jene nach Versuchen mit Atombomben. Dennoch: Ab dem 2. Mai 1986 waren vor allem Kinder ausländischer Eltern in Sandkisten anzutreffen. Sie konnten die Warntafeln nicht lesen. Am selben Tag wurde empfohlen, jegliches Gemüse gründlich zu waschen. Ab 3. Mai war der Import vonMilch, Obst und Gemüse aus Osteuropa verboten. Waldheim wurde gewählt. Das war’s.

Doch, noch etwas: Wiener Hoteliers beklagten Gästemangel als Folge von "Gräuelprogaganda“, weil Medien Österreich als radioaktiv verseucht dargestellt hätten. (C. R.)

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