"Solidarität bleibt ein Wunschtraum"

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Es sei höchste Zeit für ein Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit, fordert der Schweizer Philosoph Thomas Kesselring.

Die Furche: Herr Kesselring, warum ist Entwicklungshilfe eine zweischneidige Angelegenheit?

Thomas Kesselring: Entwicklungshilfe hat neben manchem Positiven - Senkung der Kindersterblichkeit, Verlängerung der Lebenserwartung, Erhöhung der Einschulungsquote - auch Negatives gebracht: Verstärkte Abhängigkeit, Lähmung von Eigeninitiativen, Umweltzerstörung, Korruption auf höchstem Niveau. Entwicklungshilfe ist ein Geschäft geblieben. Solidarität bleibt ein Wunschtraum.

Die Furche: Wie sieht das Geschäft mit Entwicklungshilfe aus?

Kesselring: Entwicklungshilfe ist oft an die Bedingung gebunden, dass Produkte des Geberlandes gekauft werden. Nicht selten ermöglichen Entwicklungshilfeprojekte Firmen in den Industrieländer große Aufträge, mitunter sogar zu Preisen oberhalb der Weltmarktpreise. Kein Wunder, dass oft bis zu neun Zehnteln der Entwicklungshilfegelder im Geberland verbleiben.

Die Furche: Wo könnte Entwicklungspolitik neue Wege einschlagen?

Kesselring: Durch die Schaffung eines Netzes von Entwicklungspartnerschaften. Je ein reiches Land ginge mit einem oder mehreren armen Ländern eine Entwicklungspartnerschaft ein. Die Entwicklungspolitik wäre gemeinsam zu bestimmen, aber das reiche Land ist für die Entwicklungsfortschritte oder -rückschritte im Partnerland mitverantwortlich. Diese Verantwortung würde dadurch unterstrichen, dass das Partnerland gleichzeitig für die Versorgung aller Menschen zuständig wäre, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat im Süden verlassen und irgendwo ein Asylgesuch stellen. Mindestens die EU könnte ein solches Modell ausprobieren. Bei einem solchen Konzept wird das Interesse an echter, wirksamer Entwicklungshilfe im Norden schlagartig steigen, denn jedes europäische Land hat ein Interesse, die Zahl der Migranten selber steuern zu können. Mit der Kooperation zwischen den Partnerländern steigt auch das wechselseitige Interesse am Wohlergehen des jeweils anderen. Länder in besonders tiefen Krisen müssten gegebenenfalls zur "Chefsache" erklärt, das heißt von der UNO direkt betreut werden.

Die Furche: Welche Rolle spielen Nicht-Regierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit?

Kesselring: Ich setze eine gewisse Hoffnung auf die Zusammenarbeit der NGOs im Norden mit Bürgerbewegungen im Süden. Hier wie dort wächst das Bewusstsein, dass gerade die größten globalen Herausforderungen uns alle betreffen: die ökologische Krise, die Erschütterungen der Finanzmärkte, die interkontinentale Migration, die wachsenden illegalen Märkte (Drogen-, Waffen-, Menschenhandel) und neuerdings der Terrorismus. Mit einer Politik, die einer neoliberalen Ökonomie hörig ist, können diese Probleme niemals gelöst werden.

Die Furche: Sind NGOs die besseren Makler in der Entwicklungshilfe?

Kesselring: Man sollte sich keinen falschen Illusionen hingeben. Auch NGOs betreiben manchmal eher Geschäfte als echte Entwicklungszusammenarbeit. In Lateinamerika operieren NGOs, die sich darauf spezialisiert haben, aktiven Gruppen vor Ort internationale Geldgeber zu vermitteln - bei einer Vermittlungsgebühr von bis zu 20 Prozent des Gesamtbetrages. Im bolivianischen Cochabamba haben Hunderte NGOs ihre Büros; alle bieten sie den Einheimischen ihre Dienste an - dabei konkurrieren sie vielfach untereinander. Natürlich gibt es auch positive Beispiele: "Ärzte ohne Grenzen", "Terre des hommes" und viele andere.

Die Furche: Sie sind Philosoph, was kann Ihre Disziplin für die Entwicklungshilfe leisten?

Kesselring: Wenn ich an Lateinamerika denke, so ist in vielen Ländern das Gedankengut der europäischen und nordamerikanischen Philosophie erstaunlich präsent, nicht selten sogar präsenter als vielerorts im deutschsprachigen Raum. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Lateinamerikaner dieses Gedankengut in die Praxis umsetzen - und dies in einer Weise, die man so in Europa kaum findet.

Die Furche: Zum Beispiel?

Kesselring: Ich denke an die Umsetzung der Theorie des herrschaftsfreien Diskurses von Jürgen Habermas im Bürgerhaushalt von Porto Alegre, Brasilien. Dort lädt der Bürgermeister seit 1990 die Bürger ein, beim Stadtbudget mitzuwirken. Die Interessierten treffen sich in Bezirksversammlungen, wo sie die lokalen Ausgabepräferenzen festlegen. An einem solchen Budgetprozess beteiligen sich bis zu Zehntausend Personen. Diese Art von öffentlicher Haushaltsdebatte hat in Porto Alegre die Korruption in der öffentlichen Verwaltung praktisch zum Verschwinden gebracht.

Die Furche: Es wird also das, was dem Philosophen Jürgen Habermas unter einem herrschaftsfreien Diskurs vorschwebt, in die Praxis umgesetzt?

Kesselring: Ja, die Betroffenen werden in die Entscheidung mit einbezogen, wobei jede Stimme gleich viel zählt. Nicht die Ausübung von Druck, sondern das Argument zählt. Obwohl das Land noch 1985 eine Diktatur war, sind heute im Süden Brasiliens - besonders in Porto Alegre - die Spielregeln der Demokratie erstaunlich gut verankert. Und die Praxis dort regt zu neuer Reflexion an und könnte Anlass geben zu verfeinerten Theorien, die ihrerseits wieder die Praxis inspirieren.

Das Gespräch führten Johannes Maerk und Erika Müller.

Zur Person: Thomas Kesselring lehrt Philosophie, Schwerpunkt Ethik, an der Uni Bern. Zuvor war er mehrere Jahre Gastprofessor an der Universität Rio Grande do Sul, Brasilien. In seinen jüngsten Arbeiten beschäftigt sich Kesselring mit der Verschuldungsproblematik der Dritten Welt, Ethik und Marktwirtschaft sowie der Rolle von NGOs im Nord-Süd-Kontext. Auslöser für sein Interesse an diesen Themen war die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs für Erwachsene in einer brasilianischen Slumsiedlung.

Buchtipp:

ETHIK DER ENTWICKLUNGSPOLITIK

Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung

Von Thomas Kesselring

C. H. Beck Verlag, München 2003,

323 Seiten, kt., e 24,90

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