Opferstock und Sinn des Lebens

19451960198020002020

Ohne ein Verhältnis zum Absoluten ist es unmöglich, Sinn im Leben zu finden, meint der französische Philosoph Luc Ferry. Nun aber ist der Himmel leer, diagnostiziert Ferry, und der einzige Gott der dem Menschen bleibt, ist der Mensch.

19451960198020002020

Ohne ein Verhältnis zum Absoluten ist es unmöglich, Sinn im Leben zu finden, meint der französische Philosoph Luc Ferry. Nun aber ist der Himmel leer, diagnostiziert Ferry, und der einzige Gott der dem Menschen bleibt, ist der Mensch.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn in einer Pfarrgemeinderatssitzung davon die Rede ist, dass in den "Bruder in Not"-Opferstock immer viel mehr Geld eingeworfen wird, als in die Opferstöcke für Blumenschmuck, Pfarrhofrenovierung, laufende Pfarrausgaben - und wenn dann noch festgestellt wird, dass der Opferstock für die "Armen Seelen" regelmäßig die größten Beträge enthält, dann muss das nichts mit der Frage nach dem Sinn des Lebens zu tun haben, doch ganz ausschließen lässt es sich nicht.

"Ohne ein Verhältnis zum Absoluten herzustellen, ist es unmöglich, den Begriff des Sinns zu verstehen", stellt Luc Ferry im Gespräch mit der furche seine Position klar. Nur: "Der "Himmel ist leer", diagnostiziert Ferry, "die Entzauberung der Welt ist vollzogen." Wo lässt sich da noch ein Absolutes finden, um daran Sinn anzuknüpfen?

Heiliges im Menschen Das vom kürzlich verstorbenen polnischen Priester, Philosophen und Solidarno's'c-Vordenker Jozef Tischner mit gegründete Wiener "Institut für die Wissenschaften vom Menschen" hatte den in Paris lebenden und lehrenden Philosophen Luc Ferry nach Österreich eingeladen. Sein Buch mit dem provozierenden Titel "Von der Göttlichkeit des Menschen oder Der Sinn des Lebens" brachte die furche auf die Spur des Philosophen, und der Titel stellt auch schon Ferrys Antwort auf die Suche nach dem abhanden gekommenen Absoluten in der modernen Welt dar: "Es gibt nur noch einen Punkt, der mit dem Absoluten, dem Heiligen etwas zu tun hat, und der ist das menschliche Leben und das Verhältnis zum Anderen."

Statt einer "vertikalen Transzendenz" postuliert Ferry eine "horizontale Transzendenz", denn "wenn das Heilige nicht mehr in einer Tradition wurzelt, deren Legitimität aus einer dem Bewusstsein vorgängigen Offenbarung resultiert, muss es künftig dem Inneren des Menschen selber zugeordnet werden". Laut Ferry findet eine Vermenschlichung der Transzendenz statt, nicht die Auslöschung, sondern eine Verschiebung traditioneller Vorstellungen des Heiligen.

Anhand des gleichen Wortstamms der beiden französischen Ausdrücke le sacre (das Heilige) und le sacrilege (das Opfer, die Aufopferung) erklärt Ferry den Bedeutungswandel des Heiligen, und wie damit die Frage nach dem Sinn des Lebens im Rahmen des modernen Humanismus eine völlig neue Gestalt annimmt.

Das Heilige ist für Ferry dasjenige, wofür es möglich ist, Opfer zu bringen, sich aufzuopfern. Aber die einst dem Göttlichen oder anderen dem Menschen übergeordneten Instanzen (Vaterland, Revolution, Partei) vorbehaltene Opferbereitschaft hat sich in der Moderne vermenschlicht. Die Geschichte der Aufopferung - was wann aufopferungswürdig war - zeigt den Wandel der Vorstellungen, die sich Menschen vom Heiligen machten.

Ferrys These ist nun, dass der Prozess der Entzauberung der Welt, in dessen Verlauf es zu einer Vermenschlichung des Göttlichen gekommen ist, durch die gleichzeitige Vergöttlichung des Menschen ausgeglichen wird. Und das gelte für jeden und jede. Denn egal ob gläubiger Christ, Materialist oder Atheist, meint Ferry, für jeden Menschen gebe es nach wie vor Werte, wofür es sich lohnt, sein Leben hinzugeben, ein Opfer zu bringen. "Gäbe es keine Wesen oder Werte, für die ich in irgendeiner Weise bereit wäre, mein Leben zu riskieren, dann wäre ich ein armer Mensch. Damit würde ich eingestehen, dass ich nicht liebe." Aber wie ist es möglich, fragt Ferry, dass auch für Atheisten die Möglichkeit des Opfers existiert? "Das kann doch nur bedeuten, dass wir noch eine Beziehung zum sacre (Heiligen) in der Möglichkeit des sacrilege (Opfers) haben, auch wenn wir nicht in einer religiös gefärbten Welt leben oder an Gott glauben." Ferry findet hier "eine Spur der religiösen Attitüde in der Welt, die horizontale Transzendenz".

Doch woher kommt diese horizontale Transzendenz? Speist sie sich aus einer vertikalen Transzendenz? "Das ist wohl möglich, dass sie von einer vertikalen Transzendenz kommt", antwortet der Philosoph, "aber ich weiß es nicht, und ich kann es nicht beweisen. Wenn ich an Gott glaube, kann ich diese Hypothese anstellen, wenn ich nicht an Gott glaube, dann muss ich diese horizontale Transzendenz einfach konstatieren, beobachten, bemerken und als Faktum annehmen, aber nicht mehr."

Für Ferry zeigt sich die von ihm postulierte horizontale Transzendenz vor allem an der Opferbereitschaft vieler Menschen für ihre leidenden Mitmenschen, versinnbildlicht durch den Opferstock für den "Bruder in Not". Die Zunahme von regierungsunabhängigen, karitativen Organisationen, das Ausmaß des Spendenaufkommens, Millionen freiwillige Helferinnen und Helfer in internationalen Hilfsorganisationen aber auch in Vereinen und Zusammenschlüssen: "Die Deutung dieses Phänomens ergibt sich zweifelsohne nicht von selbst, und es wäre übereilt, die weltweite Hilfsbereitschaft unserer Mitmenschen ohne weiteres Fragen zu feiern, aber trotzdem, die zunächst laiisierten und dann aufs neue getauften Werte der Barmherzigkeit erfahren einen nie gekannten Aufschwung."

Unsere Vorfahren, sagt Ferry, klammerten sich an die religiöse Form als solche, aber der Inhalt der Religion, die Botschaft der Liebe fand keine oder nur wenig Entsprechung in der Realität der menschlichen Beziehungen. Im Gegensatz dazu lehnten die Menschen der Moderne die Autoritätsargumente des Theologisch-Ethischen ab, mussten aber miterleben, wie sich in ihrem Leben Gefühle Geltung verschafften, die die Liebe heilig sprechen, und sie zum letzten Ort des Sinn des Lebens machen.

Der moderne Humanismus knüpft damit an ein zentrales Motiv des Christentums, meint Ferry: "Die Liebe als Sinnstifter, als priviligierter Ort des Sinns. Deswegen ist die Trauer, die Erfahrung des Todes von jemandem, den man liebt, auch nicht nur ein psychisches Leiden, sondern "hauptsächlich eine Erfahrung des Sinnverlusts, eine Quelle der Sinnlosigkeit". Und wenn die vergöttlichte Menschheit, die Stelle des absoluten Subjekts eingenommen hat, "dann muss ich denken können", so Ferry, "dass sie ewig ist, dass sie fortbestehen muss, damit es auf dieser Erde noch Sinn gibt". Der volle Opferstock für "Arme Seelen" gewinne auf diesem Hintergrund eine andere Dimension.

Jetzt erleben wir den Augenblick, meint Ferry, in dem sich die beiden Prozesse - die Vermenschlichung des Göttlichen und die Vergöttlichung des Menschen - kreuzen. Hier treten Irritationen auf. Ferry: "Bei den Materialisten deshalb, weil die Anerkennung von Transzendenzen nicht der Logik der Wissenschaften entspricht. Bei den Christen deshalb, weil sie gezwungen sind, neue Formulierungen für ihren Glauben zu finden, die schließlich doch noch mit dem modernen Prinzip der Ablehnung der Autoritätsargumente in Einklang zu bringen sind." Auf eines legt Ferry dabei aber besonderen Wert: "Die Ablehnung der Autoritätsargumente in der Moderne ist keine einfache Wendung oder nur zufälliger Niedergang, sondern ein Ereignis, dessen sich die Geschichte bediente, um den Menschen sich selbst zu offenbaren."

In einer seiner Predigten gesteht der deutsche Mystiker Meister Eckehart einmal, dass, wäre niemand zum Zuhören seiner Worte da gewesen, er "hätte dem Opferstocke predigen müssen". Was ist, wenn heute auch die Opferstöcke predigen? Darüber, wie Glaubensprioritäten gesetzt werden, wie es um das Verhältnis von vertikaler und horizontaler Transzendenz bestellt ist.

Buchtipp Von der Göttlichkeit des Menschen oder Der Sinn des Lebens Von Luc Ferry. Zsolnay Verlag, Wien 1997, geb., 287 Seiten, öS 291,-/e 21,15

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung