Weltweit Bewegung aus der Türkei

Werbung
Werbung
Werbung

Heute ist Fethullah Gülen 80 Jahre alt und lebt in den USA. Auf bis zu zehn Millionen wird seine Anhängerschaft weltweit geschätzt. Von Anfang an war er ebenso geachtet wie umstritten.

Als verkappte Fundamentalisten geistern sie derzeit durch europäische Medien. Die Frankfurter Allgemeine versah die Gülen-Bewegung letzte Woche im Leitartikel mit dem Attribut "islamistisch“ und machte sich die Vermutung zu eigen, sie betreibe die Errichtung eines "theokratischen Staates“. Neue wie alte Vorwürfe für eine weltweit verbreitete Gruppierung, der schon vieles unterstellt wurde.

Fethullah Gülen, der Prediger und Namensgeber der Bewegung, habe 1998 Papst Johannes Paul II. in Rom aufgesucht - als erster hochrangiger islamischer Gelehrter aus der Türkei, sagt Ismayil Tokmak, Obmann von "Friede - Institut für Dialog“ in Wien, das der Gülen-Bewegung zugeordnet wird: "Alsogleich hat die veröffentlichte Meinung im Land Vorwürfe von Apostasie lanciert: Gülen sei ein heimlicher christlicher Missionar.“ Tokmak, Mediziner mit türkischem Hintergrund, zählt viele Vorwürfe auf, mit denen sich Gülen zu befassen hatte.

Tatsächlich kreidete man Fethullah Gülen Anfang der 80er Jahre den guten Kontakt zum liberal-muslimischen Ministerpräsidenten Turgut Özal an, später kritisierte man seine Freundschaft zum langjährigen Führer der Linken, Bülent Ecevit. Und heute unterstellen ihm die Gegner von Ministerpräsident Erdo˘gan eine islamistische Agenda.

Eindeutige Bewertung ist schwer

Eine eindeutige Bewertung von Fethullah Gülen und seiner Bewegung scheint zurzeit aber schwer, zu viele Aspekte und Facetten bieten sich dem Beobachter. Der 1941 in Ostanatolien Geborene hat einen mystischen (Sufis, Derwische) wie pragmatischen Zugang zum Islam. Zum Teil folgt er den Ideen des Reformers Said Nursi (1876-1960), der einen spirituellen Islam mit der Moderne versöhnen wollte. Gülens Lehren fußen auf der Bekämpfung dreier "Feinde“ - der Unwissenheit, der Armut und der Zwietracht. Der erste Aspekt ist bei seiner Anhänger augenfällig: Engagement für umfassende Bildung (nicht, wie bei vielen islamischen Bewegungen, etwa der Moscheenbau) steht im Mittelpunkt.

Das Konzept der Überwindung der Unwissenheit führt auch dazu, dass Gülen sich seit Langem den Dialog auf die Fahnen heftet: Er war in der Türkei (abgesehen von Nursi) der erste islamische Führer, der sich glaubhaft um Kontakt mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel mühte. Der Besuch beim Papst 1998 passt in diese Agenda. Auch der amerikanische Jesuit Thomas Michel, ein führender katholischer Islam-Experte, würdigt Gülens Rolle als spiritueller Begleiter und als Dialogpartner. Und: Gülen hat in seinen Predigten und Schriften auch die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam dargestellt; die Scharia als staatliches Recht lehnt er ab.

Seit 1998 lebt Gülen in den USA. Die von ihm inspirierte Bewegung hat sich von der Türkei ausgehend über die Turk-Nachfolgestaaten der UdSSR bis nach Bosnien verbreitet, auch in den USA, in Deutschland oder Österreich gibt es Ableger. Über 1000 Schulen auf allen Kontinenten wurden gegründet, in der Türkei auch eine Universität, interreligiöse Dialog-Institutionen wie das Institut "Friede“ gibt es weltweit, außerdem steht die Tageszeitung Zaman (auch von ihr gibt es Ableger in Europa) der Bewegung nahe.

Die US-Religionssoziologin Helen Rose Ebaugh schätzt in einer Analyse ("The Gülen Movement“, Springer Verlag 2009), dass in der Türkei zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung der Bewegung nahestehen, weltweit seien es bis zu zehn Millionen Sympathisanten in mehr als 100 Ländern. Die Zahlen zeigen, dass der heute 80-jährige Prediger und Autor von über 60 Büchern eine erstaunliche Zahl von Anhängern sammelte.

Man muss sich vor der Gülen-Bewegung keineswegs fürchten, ist Rabbiner Walter Homolka in Berlin überzeugt. Der Leiter des Abraham-Geiger-Kollegs und FURCHE-Kolumnist hat ein ein Buch über die Bewegung herausgebracht (vgl. links). Im Gespräch mit der FURCHE meint Homolka, er habe weder in Deutschland noch in den USA Belege gefunden, dass die Gülen-Bewegung Merkmale einer Sekte zeige oder zu Verschwörungstheorien Anlass gebe. Homolka vergleicht sie mit den Pietisten, jener protestantischen Bewegung, die sich durch besondere Frömmigkeit mit einer missionarischen und sozialen Komponente auszeichnet. Der Zugang, über Bildung die Menschen zu erreichen, imponiert Homolka. Der Einfluss auf Moscheegemeinden in Deutschland sei dagegen gering.

Ähnliches bemerkt auch der Besucher im Wiener Institut "Friede“: Verbindungen zu den muslimischen Gemeinden hierzulande oder zur Islamischen Glaubensgemeinschaft IGGiÖ sind lose. Die Aktivitäten seines Instituts und jener der IGGiÖ "überschneiden sich nicht allzu oft“, meint dessen Obmann Ismayil Tokmak zur FURCHE.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung