Was sind das für Zeiten, wo ...

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Wer die Zeit meistern will, sollte die Dichter und Denker zum Reden bringen. Oder ein Gespräch über Bäume führen - und so den Dialog über Gott und die Welt beginnen.

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Wer die Zeit meistern will, sollte die Dichter und Denker zum Reden bringen. Oder ein Gespräch über Bäume führen - und so den Dialog über Gott und die Welt beginnen.

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Kaum ein anderes Wort von Bert Brecht hat über lange Zeit so viel Mißinterpretation erfahren wie jenes Diktum vom Gespräch über Bäume. Dieses Gespräch erschien desavouiert: Über Bäume zu sprechen, so die Begründung, sei nutzlos. Oder eben gar ein Verbrechen. Jedenfalls würde man dadurch die Untaten der Menschheit, die laut und intensiv und schuldbewußt reflektiert werden müßten, verschweigen.

Die Denkungsart, aus der obige Argumentation folgte, prägte weitgehend jene (links-)intellektuelle Generation, die mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs nur schwer zu Rande kam. Auch bei den "Achtundsechzigern" und deren Epigonen in den 70er Jahren war dieselbe Ideologie en vogue: Nicht über Bäume sollte geredet werden, sondern über die Not der Welt, die Verbesserung der Lebenszustände, die Bekämpfung des Unrechts, die Befreiung des Menschen. Karl Marx war einer der Heiligen dieser Generation; auch Bert Brecht und sein Baum-Spruch wurden durch diese Brille angeblickt.

Etwas später kamen die Bäume dann doch ein wenig ins Spiel - als schützenswertes Gut, als Bild und Ausdruck für weitere Ausbeutung: Der Mensch - nicht nur dem Menschen ein Wolf, sondern auch der Natur; Bäume müssen sterben wie Menschen. Und viele noch vor der Zeit.

Auch derartiges Gespräch über Bäume ist bei Brecht nicht gemeint: weder um Naturschutz und Ökologie geht es, noch um gesellschaftliche Verhältnisse. Sondern schlicht und einfach: um Bäume. Pathetisch gesprochen: um das Gute, Wahre, Schöne. Zynisch geredet: um L'Art pour l'Art. Poetisch gesagt: um Poesie.

Was sind das für Zeiten wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Das langjährige Mißverständnis in bezug auf das Brecht-Wort bestand darin, daß es nicht - wie geglaubt - das Baum-Gespräch ankreidet, sondern die Zeiten: Die Zeiten sind zu beklagen, in denen aus dem Gespräch über Bäume ein Verbrechen wird, weil dann soviel Verschweigen mitklingt.

Die Zeiten sind anders geworden, 1998 ist nicht 1968. Doch die Klage kann noch nicht verstummen: Es wird weiter verschwiegen. Zuviel. Die Poesie ist schon seit längerem zwar aus dem Schlaf erwacht, in den sie gedrängt wurde, als jedes Sprechen politisch war und die Menschheit zum Besseren belehrte. Doch das Gespräch über Bäume hat dennoch nicht wirklich begonnen. Und Karl Marx ist so tot, daß selbst die Ungerechtigkeit und die Ausbeutung, die viele in seinem Namen ausmerzen wollten, noch alltäglicher sind: Nicht einmal mehr die Dichter stehn auf und schreien und schreiben darüber.

Die Zeiten sind anders, aber geblieben ist unerringbares Wort: Sprachlosigkeit ist das Übel dieser Zeit. Und Fraglosigkeit: Fragt jemand, wo die Bäume sind, über die zu reden sich lohnte? Holt jemand die Dichter hervor und ruft ihnen zu: Schreibt! Schreit! Lest! Sprecht!? Hört jemand die Stimmen der Zeit? Lenkt jemand den Blick auf die Zeichen am Himmel (oder an der Wand) und beginnt sie zu deuten? Wundert sich jemand über die Abwesenheit des Ziels - selbst des kleinsten -, obwohl alle einen Weg gehen nach Irgendwohin? Und gebietet ein einziger Einhalt, wenn Geschwätz das Reden verdrängt und vorgibt, der Zukunft Sprache zu sein?

Was sind das für Zeiten wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Über Untaten wurde lange geschwiegen. Das ist nicht neu. Gilt auch für heute. Das Gespräch über Bäume findet trotzdem nicht statt: nicht über den Samen, nicht über den Herbst oder den Frühling, schon gar nicht über den Winter. Auch nicht über die Dürre und die Zeit danach.

Bäume können manch Dürre überdauern. Sie sind schon fast tot und werden wieder lebendig. Und andere bleiben tot ... Ein Gespräch über Bäume wäre so nicht ohne Sinn: Es könnte von Grünen und Welken handeln, von Wurzeln, die tragen, und Rinde, die blutet. Es wären die Dichter gefragt, dann die Denker zum Reden zu bringen; nicht locker ließen die Wißbegierigen, der Neugierde wären aufs neue Chancen gegeben: Aus dem Gespräch über die Bäume würde ganz unversehens ein Dialog über Gott und die Welt.

Die Zeiten sind jeweils anders. Sie wollen dennoch gemeistert sein. Die Bäume dabei ins Spiel zu bringen, mag blauäugig wirken: Aber ist nicht im Winter für den Baum jeder neue Trieb kaum wahrscheinlich - und doch erwarten und wissen alle, daß Frühling kommt?

Solches Gespräch über Bäume wäre kein Verbrechen. Es würden keine Untaten verschwiegen. Kein Wort zuviel müßte sein. (Und aus einem Dialog würde vielleicht etwas anderes als bloßes Gerede.)

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Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Bertolt Brecht

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