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Kampf gegen eigene Gehirnzellen

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Jeder Elektriker weiß, wie wichtig die Isolierung von elektrischen Leitungen ist. Wenn die Plastikschicht, die ein Kabel umgibt, fehlt oder durchlässig ist, kann der Stromfluß geschwächt oder gar unterbrochen werden. Liegen zwei schlecht isolierte Leitungen dicht nebeneinander, so kann Strom von der einen auf die andere überspringen und sich so einen falschen Weg bahnen.

Bei den Neuronen, jenen Zellen, aus denen das menschliche Zentralnervensystem besteht, ist es nicht anders: Sie bestehen aus einem sternförmigen Zellkörper und einem bis zu einem Meter langen Fortsatz, dem Axon. Das Axon, durch das die Zelle Impulse zu anderen Gehirnzellen aussendet, ist mit einer Isolierschicht aus Myelin umgeben. Istdiese Schicht beschädigt, geschieht das gleiche, wie bei einer schadhaften elektrischen Verkabelung: Impulse werden verzögert, verflüchtigen sich oder springen auf benachbarte Axone um. Zwei der möglichen Folgen: Körperteile können nicht mehr kontrolliert werden; Berührungsreize werden als Schmerz interpretiert oder umgekehrt.

Multiple Sklerose (MS) ist eine Entzündungskrankheit, die jene isolierende Myelinschicht angreift und zum Verschwinden bringt. Diejenigen Stellen der Axone, an denen das Myelin fehlt, sehen aus wie Narben -daher der Name: „Multiple Sklerose" heißt soviel wie „viele Narben".

Je nachdem, welche Teile des Zentralnervensystems - Gehirn und Rückenmark - betroffen sind, machen sich entsprechende Symptome bemerkbar: Sind die Sehbahn und der Sehnerv betroffen, kommt es zu Sehstörungen. Sind die sogenannten Pyramidenbahnen geschädigt, kommt es zu motorischen Störungen bis hin zur vollständigen Lähmung. Schädigungen der Myelinschicht der Axone in den sensiblen Affarenzbahnen, die Gefühlsreize aus dem Körper ins Gehirn übertragen, machen sich mit Empfindungslosigkeit, Überempfindlichkeit und Fehlinterpretation von Reizen bemerkbar. Die Demyeli-nisation in bestimmten neurologischen Strukturen führt zu Problemen beim Urinieren und der Darmentleerung - von den Patienten besonders gefürchtete Symptome. Finden sich die von der MS hervorgerufenen Entzündungsherde im Kleinhirn, kommt es zu Störungen der Feinmotorik.

Vier MS-Varianten

Der Verlauf der MS ist unvorhersehbar. Es gibt Patienten, die von ihrer Krankheit kaum beeinträchtigt sind, und es gibt andere, deren Zustand sich binnen kurzer Zeit bis zur völligen Invalidität verschlimmert. Die Mediziner unterscheiden vier verschiedene MS-Varianten:

■ Schubweiser Verlauf mit Remissionen (Häufigkeit: 25 Prozent). Dabei kommt es zu plötzlichen Krankheitsschüben, in denen neue Symptome auftreten oder sich bestehende Symptome verschlimmern. Solche Schübe können Tage oder Monate dauern. Anschließend kommt es zu einem teilweisen oder gänzlichen Verschwinden der Symptome. Zwischen einzelnen Schüben können Monate oder sogar Jahre liegen.

■ Gutartiger Verlauf (Häufigkeit: 20* Prozent). Dabei kommt es zu einem oder zwei MS-Schüben, von denen sich der Patient aber meistens vollständig erholt. Die allermeisten Patienten mit gutartigem Krankheitsverlauf bemerken außerhalb der Schübe , nichts von ihrer Krankheit.

■ Primär fortschreitender Verlauf (Häufigkeit: 15 Prozent). Diese Form der MS beginnt schleichend und schreitet mit ständiger Verschlimmerung der Symptome fort. Es gibt keine Schübe, aber auch diese Variante der Krankheit kann über Moriate oder Jahre ruhen.

■ Sekundär fortschreitender Verlauf (Häufigkeit: 40 Prozent). Eine anfänglich schubweise verlaufende MS geht in eine kontinuierlich fortschreitende über.

Alles in allem kann gesagt werden: Bei plötzlich auftretenden, schwerwiegenden Symptomen ist die Chance, daß sie wieder verschwunden, wesentlich größer als bei langsam entstehenden, milden Symptomen, wie Harald Kollegger, Leiter der MS-Ambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus erklärt.

MS ist eine Autoimmunkrankheit. Das heißt, das menschliche Immun-System identifiziert aus unerfindlichen Gründen körpereigene Substanzen als körperfremd und attackiert sie - im Fall der MS die Myelinschicht der Axone. Freßzellen beginnen die fetthaltige Substanz zu eleminieren; ein Entzündungsprozeß wird in Gang gesetzt. Die dabei entstehenden Antikörper können mittels Punktion der in den Hohlräumen von Gehirn und Rückenmark befindlichen Flüssigkeit aufgespürt werden. Andere Methoden, um MS zu diagnostizieren, sind die Kernspintomographie, mit der die Narben auf der Myelinschicht sichtbar gemacht werden können, und elektrophysiologische Seh- und Hörtests, mit denen die Reizübertragung in Gehirn und Rückenmark gemessen wird.

Frauen benachteiligt

MS ist nicht ansteckend. Die Krankheit wird nicht vererbt, doch scheint es eine gewisse genetisch bedingte Anfälligkeit zu geben. MS tritt am häufigsten bei jungen Erwachsenen auf: Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 29 bis 33 Jahre, doch das Leiden kann in einer äußerst weiten Altersspanne von zehn bis 60 Jahren ausbrechen. Fest steht nur, daß Frauen eine höhere Erkrankungswahrscheinlichkeit haben: Auf einen kranken Mann kommen zwei kranke Frauen.

Die tiefere Ursache der Multiplen Sklerose ist bisher noch nicht bekannt. Ein Virus oder das Zusammenspiel mehrerer Viren könnte eine Rolle spielen. Eine gängige Hypothese lautet: Im Kindesalter kommt es zu einer initialen Sensibilisierung des Immun systems gegen das Myelin. Durch eine Infektion, durch eine Impfung oder bei emotionalem Streß wird die Immunabwehr dann aktiviert.

In der Tat entscheidet sich die MS-Anfälligkeit im Kindesalter: In Äquatornähe ist das Risiko, an MS zu erkranken, am geringsten. In Nordeuropa und Nordamerika tritt MS besonders häufig auf, nämlich bei rund einem Promille der Bevölkerung. Auswanderung wirkt sich nur in jungen Jahren auf die MS-Anfälligkeit aus: Wenn ein Kind noch vor der Pubertät aus einer äquatorialen in eine gemäßigte Zone umzieht, erwirbt es das Erkrankungsrisiko in der neuen Heimat. Jugendliche und Erwachsene hingegen nehmen das Risiko der bisherigen Heimat mit.

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