Das Theater als Vivisektion des Alters

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Luc Bondy zeigt bei den Wiener Festwochen seine Inszenierung von Eugène Ionescos Stück "Les Chaises“ (Die Stühle) als große Menschendarstellung: das Leben als Theater.

Eugène Ionescos Theaterstück "Les Chaises“ (Die Stühle), das der nach Paris exilierte rumänische Dramatiker vor fast genau sechzig Jahren geschrieben hat, ist ein immer währendes Zukunftsstück. Denn dieses Endspiel erzählt als "tragische Farce“ den Lebensabend zweier hochbetagter Individuen, handelt also davon, was die Zukunft jeden Zuschauers ist.

Keine Welterklärung, keine Erlösung

Semiramis, die Alte, unwesentlich jünger als ihr Mann, und der 95-jährige Poppet erzählen sich, um der Eintönigkeit und Langeweile ihres von rituellen Handlungen bestimmten Alltags zu entgehen, sinnlose Geschichten aus der Vergangenheit, verteilen Komplimente, machen Vorwürfe und erinnern, was war und was hätte sein können. Während dieser Suche nach der vergangenen Zeit schleppt das greise Paar in Erwartung zahlreicher honoriger Gäste unentwegt Stühle herbei. Denn man hat einen Redner bestellt, der - so die Hoffnung - der Nachwelt eine menschheitserlösende Botschaft zu verkünden hat. Die Stühle aber bleiben leer, die Gäste sind lauter Hirngespinste, mit denen man ungeachtet ihres Phantomcharakters dennoch aufs eifrigste parliert oder aufs innigste flirtet. Der vermeintliche Heilsbringer erweist sich zudem als taub und stumm, die Botschaft zur Rettung der Welt bloß als ein unverständliches Gestammel. Die Welt, so vielleicht will Ionesco sagen, ist nicht zu retten, dem Dasein kein sagbarer Sinn abzugewinnen. Keine Welterklärung, niemand, den es interessiert, keine Erlösung irgendwo.

Ionesco meinte über sein absurdes Theater einmal: "Wie könnte ich, da mir die Welt unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen? Ich warte, dass man es mir erklärt.“ Luc Bondys sehenswerte Inszenierung, die nun auch bei den Wiener Festwochen zu Gast ist, interessiert sich weniger für eine Interpretation von Ionescos Antitheater. Bondy verlegt sein Augenmerk vielmehr auf die Darstellung der Alten. Er erklärt das Stück nicht, sondern nimmt es als Vorlage zur Vivisektion des Alters.

"Knocking on Heaven’s Door“

Als Spielraum hat der Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann einen schwarzen transparenten Kasten mit leuchtenden Neonkanten hingestellt. Mit den zwei herunterhängenden Galgenstricken, die den beiden Insassen mal als Kletterseil oder als Schaukel dienen, wirkt er wie ein Vivarium, in dem die zwei kauzigen Alten wie sonderbare Tierchen erscheinen. Die - nach dem Willen des Autors - jungen Schauspieler Dominique Reymond und der schlaksige Micha Lescot mimen die Alten auch mit allen neurotischen Eigenschaften von in solch künstlicher Umgebung gefangen gehaltenen Geschöpfen. Oder sind es nicht vielmehr einfach nur die vielfältigen Erscheinungsformen des Alters, die wir nur nicht kennen, weil wir den Umgang mit den Alten nicht gewohnt sind oder in düsterer Vorahnung einfach wegschauen? Schon wie die beiden hereinschlurfen, tief gebeugt mit unsicherem Gang und wie Lescot versucht mit zitternder Hand, in schier unendlicher Mühe ein Papierschiffchen in eine der Pfützen zu setzen, macht deutlich, worum es Bondy geht. In neunzig Minuten führen die beiden Darsteller die gebrechliche Hinfälligkeit des menschlichen Daseins vor Augen: Gelenkbeschwerden, Schwerhörigkeit, Starrsinn, künstliche Gebisse, Inkontinenzwindeln.

Das Absurde des Lebens liegt nicht zuletzt in der Hinfälligkeit des menschlichen Körpers. Und die beiden Alten spielen tapfer das Spiel, das Leben heißt, bis zum Ende. Und als es bei Ionesco ums Sterben geht, erscheint bei Bondy im Hintergrund ein klassisches Bühnenportal mit rotem Plüschvorhang. Auf dieser Bühne - ein letztes zahnloses Küsschen, während leise Bob Dylans "Knocking on Heaven’s Door“ zu hören ist - verabschiedet sich das absurde Pärchen in den Tod, nicht verbittert, nicht ängstlich, sondern glücklich. Das Leben kann wie das Theater nichts als Theater sein, wie Ionesco meinte. Luc Bondy zwinkert ihm mit dieser Inszenierung ironisch zu.

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