Kein Gehirn für Gefühle

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Was unterscheidet Psychopathen, wenn sie straffällig werden, von anderen Verbrechern und von normalen Menschen? Die Neurowissenschaft verspricht neue Einsichten in die Psychopathologie des Bösen. Experimente zeigen nämlich, welche Gehirnfunktionen teils schlicht fehlen.

Gewalttaten wie der Mordlauf von Anders Behring Breivik stellen die Gesellschaft vor Rätsel. Je radikaler die verbrecherische Handlung von sozialen Normen abweicht, desto größer das Unverständnis. Das alltagspsychologische Verdikt - so jemand muss wahnsinnig sein - findet in der wissenschaftlichen Analyse der Psychopathologie von Verbrechern etliche Differenzierungen.

Ob man Breivik in bekannte Kategorien abnormen Verhaltens einordnen kann oder ob er eine neue Qualität des Verbrechens begründet, lässt sich noch nicht beurteilen. Jene Details, die bereits öffentlich bekannt sind, weisen auf Merkmale eines Psychopathen hin. Für die Diagnose der Psychopathie sind unterschiedliche Tests in Verwendung. Darunter der PCL-R (Psychopathy-Checklist revised) des Psychologen Robert Hare (siehe Seite 3).

"Psychometrische Tests sind nur ein Ersatz für neurologische Messungen der zugrunde liegenden Dysfunktionen“, schrieb der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga von der Universität Santa Barbara unlängst in einem Artikel. "Bildgebende Verfahren der Hirnprozesse sollten deshalb, zumindest theoretisch, besser geeignet sein, um Psychopathen zu identifizieren.“ Viele Hirnforscher plädieren deshalb dafür, ihre Forschungsergebnisse stärker in den diagnostischen Alltag einfließen zu lassen.

Nach Wahnsinnstaten berichten Nachbarn und Bekannte des Täters häufig, er wäre freundlich und unauffällig gewesen. Untersuchungen des Gehirns ließen sich hingegen nicht täuschen, betonen Neurowissenschaftler. Tatsächlich unterscheidet sich das Zentralorgan von Psychopathen von dem normaler Menschen.

Der Neurobiologe Niels Birbaumer (Universität Tübingen) setzte Schwerverbrecher Situationen aus, die normalerweise eine Angstreaktion bewirken. Zugleich untersuchte er deren Hirn mittels Kernspintomografie. "Es zeigt sich, dass die Hirnregionen, die für Angst, Reue und Ekel zuständig sind, bei ihnen still bleiben“, erzählte Birbaumer in einem Interview. Die kognitiven Fähigkeiten dieser Menschen seien aber völlig unbeeinträchtigt. So wissen sie genau um die Folgen ihrer Tat, einschließlich einer möglichen Haftstrafe, verbinden damit aber keinerlei negative Gefühle.

Etwa die Hälfte aller Psychopathen weist eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz auf. Dies ermöglicht ihnen, ein unauffälliges Leben zu führen, oft beruflich erfolgreich zu sein. Mit Charme schwindeln sie sich durch das soziale Leben. Ihre Skrupellosigkeit wird als Zielstrebigkeit und Ehrgeiz gedeutet. Laut Studien aus den USA erfüllt einer von hundert Menschen die PCL-R-Kriterien für Psychopathie (unter Gefängnisinsassen sind es 25 Prozent).

Neben dem Fehlen von Angst weisen Psychopathen generell emotionale Defizite auf. "Eine der auffälligsten Eigenheiten von Psychopathen ist es, dass ihnen Einfühlungsvermögen fehlt“, schreiben die Wissenschaftler Kent Kiehl und Joshua Buckholtz. "Sie lügen und manipulieren, ohne Gewissensbisse oder Reue zu fühlen. Tatsächlich haben sie überhaupt keine tiefen Empfindungen.“ Oft sind sie unempfindlich gegenüber Ekel oder Gestank. Zudem haben sie Schwierigkeiten, moralische Werturteile zu treffen und ihre Impulse zu kontrollieren.

Auf die Amygdala kommt es an

Als heißer Kandidat für neurobiologische Ursachen von Psychopathie wird in der Fachliteratur häufig die Amygdala genannt. Im Temporallappen des Gehirns lokalisiert, ist sie für die Bewertung sensorischer Reize zuständig und erzeugt emotionale Reaktionen. Ist die Reaktionsfähigkeit der Amygdala beeinträchtigt, sinkt die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Gleichzeitig können Psychopathen die Gefühle anderer schlecht oder gar nicht deuten. Sie sind schlecht darin, Angst in Gesichtern oder Stimmen zu erkennen. Joseph Newman (Universität Wisconsin) belegte, dass Psychopathen zudem kaum von Verhaltensmustern abweichen, selbst wenn sich diese als nachteilig erweisen. In Spielen mit sinkenden Gewinnchancen hörten sie später auf als normale Vergleichspersonen. Dies, obwohl Newman ihnen den Mechanismus des Spiels zuvor erklärt hatte. Ursache sind Schädigungen des orbitofrontalen Kortex, der für Entscheidungen auf Basis emotionaler Erfahrungen wie Strafe und Belohnung zuständig ist.

Schon 1991 zeigte Robert Hare, dass Menschen mit psychopathischen Merkmalen semantische Feinheiten fremd sind. Er führte Versuchspersonen auf einem Bildschirm sinnlose Zeichenfolgen und echte Worte vor. Sobald ein Wort erschien, sollten die Probanden einen Knopf drücken. Das schaffen gesunde Gehirne nicht nur schneller als psychopathische. Sie unterscheiden zusätzlich zwischen emotionalen und neutralen Worten und reagieren auf erstere deutlich schneller. Im EEG zeigt sich dagegen, dass Psychopathen keinen Unterschied zwischen den beiden Wortarten machen. Andere Studien haben gezeigt, dass sie Metaphern oft nicht verstehen.

Zu dünnes Gewebe im Gehirn

Für Kent Kiehl fungieren mehrere Hirnareale gemeinsam als neurologische Ursache für Psychopathie. Er vermutete, dass das paralimbische System eine wesentliche Rolle spielt. Es ist unter anderem beteiligt an der emotionalen Bewertung von Erfahrungen, an Entscheidungen, Argumentationen, dem Formulieren von Zielen und der Impulskontrolle. Die Struktur verbindet als hufeisenförmiges Band mehrere Gehirnteile miteinander, darunter auch Amygdala und orbitofrontalen Kortex. Kiehl hat herausgefunden, dass bei psychopathischen Menschen das Gewebe des paralimbischen Systems dünner ist als bei normalen Vergleichspersonen. "Dieser Teil des Gehirns ist unterentwickelt, wie ein schwacher Muskel“, so Kiehl.

Die meisten Neurowissenschaftler räumen ein, dass die Biologie des Gehirns neben Genen, Erziehung und Umwelteinflüssen nur einer von mehreren Faktoren ist, die zu Wahnsinnstaten à la Anders Breivik führen. Es ist aber der Faktor, über den man in der Forschung derzeit am meisten Neues lernt.

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