Kino der abreißenden Sätze

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"Code Inconnu", der erste französische Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke.

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"Code Inconnu", der erste französische Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke.

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Paris ist eine multikulturelle Stadt. Einerseits. Auf der anderen Seite wird diese Stadt schnell zum Nährboden für extreme und radikale Elemente, für Rassismus und Intoleranz, wie "Code Inconnu", dem ersten französische Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke, illustriert.

Die Schauspielerin Anne (Juliette Binoche) geht über einen belebten Pariser Boulevard. Die Kamera folgt ihr, bis sie Zeugin eines rassistischen Übergriffes auf den jungen Farbigen Amadou (Ona Lu Yenke) wird. Amadou war einer rumänischen Bettlerin zur Hilfe gekommen, weil man ihr achtlos ein zerknülltes Stück Papier in den Schoß geworfen hatte. Die herbeieilende Polizei nimmt den unschuldigen Farbigen "präventiv" gleich einmal in Gewahrsam.

Mit "Code Inconnu", dem unbekannten Code in der menschlichen Kommunikation, führt Haneke eine Welt vor, in der es unmöglich geworden ist, miteinander zu kommunizieren, in der es Menschen verlernt haben, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen. "Code Inconnu" ist eine Studie über die Kälte und die emotionale Armut der Konsumgesellschaft, in der zwischenmenschliche Missverständnisse und blanker Rassismus alltäglich sind. Haneke spielt mit Gegensätzlichkeiten des modernen Alltags, zeigt Arm und Reich, Kontrolle und Ohnmacht, Kino und Wirklichkeit.

Mittendrin Juliette Binoche, längst ein französischer Weltstar. In "Code Inconnu" spielt sie sich selbst; eine Schauspielerin, die im Film einen Film dreht, der mit der Realität nichts zu tun hat. Das Kino ist Fiktion, will Haneke mit seiner Film-im-Film-Lüge sagen, und setzt seine fragmentarische Film-Wirklichkeit dagegen. Seine Figuren lässt er stets unter der Ohnmacht leiden, sich von ihrer Kommunikationsunfähigkeit nicht befreien zu können.

Inszenierte Realität ist längst jenes Rezeptionsmuster, das der Fernsehgesellschaft von klein auf anerzogen wird und das wir als wahrhaftig erachten. Für Haneke besteht die einzige Möglichkeit, Realitäten abzubilden, darin, Geschichten in Fragmenten zu erzählen. Für ihn kann die menschliche Wahrnehmung bloß lückenhaft sein.

Haneke, der Fragmentarist. Immer wieder trennt er die 50 Sequenzen in "Code Inconnu" mit zwei Sekunden Schwarzfilm. Immer wieder erinnert die bruchstückhafte, aber keineswegs zufällige Zusammensetzung an frühere Arbeiten, etwa an seine Kafka-Adaption "Das Schloss" (1997) oder an "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" (1994). Viele Sequenzen aus dem Pariser Leben bestehen aus einer einzigen Kameraeinstellung. Hanekes Kamera läuft weiter, auch wenn die Aktionen vor der Kamera längst vorbei sind. Dabei entstehen Szenen von bis zu zehn Minuten Länge, die Kamera bleibt nah dran, gibt sich aber niemals dokumentarisch, verwackelt, sondern stets stilistisch sauber. Sonst erleben wir aber ein Kino der abreißenden Sätze, der hart geschnittenen, langen Einstellungen. Ein Kino, das uns aufdringliche und unangenehme Fragen über uns selbst und unsere Lebensform stellt.

Antworten bleibt "Code Inconnu" freilich schuldig. Haneke sammelt lieber Ansätze und Theorien über Moral und Migration, die er zu einer famos konstruierten Ansammlung von Momenten, von kleinen Szenen aus einem gefühlskalten Alltag, verdichtet. Was davon Realität und Fiktion ist, muss jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.

Ab 23. März im Kino

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