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Wahre menschliche Größe

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Blättert man wieder in den Büchern Lew Kopelews, die man einst aufgeregt durchjagt hat, findet man heute eine Welt vor, die beinahe schon ganz verschwunden ist. Lew Kopelew, ein Mann von riesenhaftem Wuchs, mit mächtigem weißem Bart, starb kürzlich mit 85 Jahren in Köln. Er war mit seinem tiefen warmen Baß eine Gestalt von Tolstoj, jedoch von ganz und gar zeitgemäß stalinistischem Höllenschicksal geformt: einst gläubiger Kommunist, Offizier im großen Krieg gegen Hitler, aber schon im April 1945 „wegen Mitleid mit dem Feind” verhaftet, nach drei Jahren in verschiedenen Lagern endlich freigelassen, wenige Wochen später neuerlich festgenommen und in die „Scharaschka” gesperrt. Dort traf er einen Häftling namens Solschenizyn. Wer Kopelews frühes Porträt kennenlernen will, lese wieder den „Ersten Kreis der Hölle”, wo er außer dem Autor als zweite Hauptfigur einen gewissen Lew Btubin findet. Nämlich den Freund Lew Kopelew.

Als ich 1963 den Germanisten Kopelew in Moskau kennenlernte und mit ihm stundenlang auf den Boulevards spazierenging, um unbelauscht mit ihm sprechen zu können, war der Name Solschenizyn noch unbekannt. Und ich wußte nicht, daß ich damals Lew Bubin kennengelernt hatte. Natürlich entwickelte sich Kopelew erheblich weiter, entfernte sich sogar von Solschenizyn, dessen Lebensfreundschaft doch keine war. „Ich schwöre euch, daß ich niemals diese wahre Größe des Menschen vergessen werde, die ich im Gefängnis erkannt habe!”, steht im „Ersten Kreis” zu lesen. Mag sein. Aber rundum hat man diese Größe kaum erkannt, geschweige bewahrt. Niemand wird um die schreckliche Zeit der Lager, die Millionen das Leben gekostet hat, trauern. Aber wer, außer den Betroffenen und wenigen noch Lebenden, trägt noch das Gefühl dieser damaligen grauenvollen Situationen als Maßstab der Gegenwart in sich? Heute beherrschen Wohlstandsprobleme die Öffentlichkeit. Lew Kopelew war einer derjenigen, der uns bewußt machte, was wir haben und ja nicht verspielen sollen. Kopelew konnte seinen Zuhörern und Lesern klarmachen, wo hinter politischem und modischem Gezänk die große Gefahr liegt, nämlich in Frivolität, Korruption, Dummheit. Er war ein Mahner mit mächtiger Stimme in West und Ost - einer jener, von denen sich die Öffentlichkeit mit Tageslärm in den Ohren abgewendet hat.

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