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Der freie Geist siegt

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Wenn man Lew Kopelew sieht, denkt man unwillkürlich an einen Patriarchen: groß, breitschultrig, ein markantes, von einem mächtigen weißen Vollbart umrahmtes Gesicht — so tritt einem der alte Mann aus dem Osten entgegen. Selbst der klobige Spazierstock paßt genau zur eindrucksvollen Erscheinung. An der ruhigen, klaren Stimme, den leuchtenden, dunklen Augen und dem belustigten Schmunzeln wird man sogleich des Grundcharakters dieses Mannes gewahr, dessen vorherrschende Merkmale Güte und Versöhnlichkeit sind. Der Russe mit der großen Seele — so wie man ihn sich gerne vorstellt.

Im Gespräch werden viele Themen angeschnitten: alltägliche, harmlose und hochaktuelle. Kopelew findet Österreich sehr schön, vergleicht die Alpenregion mit dem Kaukasus, hat auch gleich eine für beide Gegenden passende Volkssage auf der Zunge. Natürlich spricht man über die Literatur, und der russische Gast weist darauf hin, daß die Literatur in seiner Heimat eine vorherrschende Stellung einnimmt. Daher sei es auch so brisant, was ein Dichter oder Schriftsteller schreibt, und nicht selten gerate man als Literat mit der offiziellen „Sprachregelung" in Konflikt.

Trotz der Emigration vieler Schriftsteller und Wissenschaftler sei das geistige Leben in Rußland durchaus nicht versiegt, sondern bringe immer wieder — wenn auch oft nur im Untergrund—große Gestalten hervor. Es gibt — so Kopelew — auch im heutigen Rußland noch viele Lyriker, Epiker, Philosophen, Theologen, Historiker, Kunst- und Naturwissenschaftler, die trotz aller ideologischer Tabus und Zensurschranken Wahrheit, Menschlichkeit und Friedenswillen zum Ausdruck bringen. „Ein guter Wille kann vieles leisten, kann den bösen Gewalten widerstehen und sie auch bewältigen!"

Am Rockaufschlag trägt Lew Kopelew das Solidarnosc-Zei-chen, und so hegt die Frage nach seiner Meinung über die „Solidarität" und Walesa nahe.

Kopelew: „ Für mich bedeutet die .Solidarität' in Polen eine gro-

ße Hoffnung. Lech Walesa kommt aus dem Volk und ist für das Volk da. Ich muß aber auch sagen, daß sich Staatschef Jaruselski bisher durchaus klug verhalten hat. Die Herren im Kreml könnten von ihm lernen."

Zur Rolle der Kirche in der Sowjetunion meint Kopelew: „Seit Kriegsende haben wir die sogenannte .offizielle' Kirche. Diese ist natürlich anders als die traditionelle Kirche in Polen. Sie ist völlig vom Staat abhängig und kontrolliert. Trotzdem gibt es auch in der offiziellen Kirche der UdSSR tief religiöse Priester. Sie halten sich jedoch von der Opposition fern. Die vor allem unter den Baptisten hervortretenden kämpferischen Aktivisten, die sich gegen verschiedene Verordnungen zur Wehr setzen, werden meist schwer verfolgt.

Eine besondere Rolle spielt die Kirche in Georgien und Armenien, wo die Patriarchen die wahren Führer des Volkes sind und auch die Jugend hinter sich haben."

Ein beachtlicher Unsicherheits-faktor für die sowjetischen Machthaber sei — so Kopelew — der Islam. Vor allem habe man große Angst vor einem Ubergreifen der islamischen Revolution auf die mittelasiatischen Sowjetgebiete. Diese Angst sei auch maßgeblich für die Besetzung Afghanistans im Dezember 1979 verantwortlich gewesen.

Kopelew ist ein zutiefst gläubiger Christ. Er bekennt: „Wäre ich in Asien aufgewachsen, hätte ich vielleicht andere göttliche Gestalten verehrt. Doch aus allem, was ich erlebt und erfahren habe, wuchs die Uberzeugung, daß die Bergpredigt der höchste und reinste Gipfel ist, den der menschliche Geist erreichen kann."

In einem Gespräch mit Lew Kopelew konnte natürlich auch das Thema Sacharow nicht unberührt bleiben: „Für mich ist Andrej Sacharow beinahe ein Heiliger. Er, der alle Chancen und Möglichkeiten für ein privilegierteres Leben in der UdSSR hatte, verzichtet auf alles, um in totaler Aufopferung anderen zu helfen. Er setzte sich ein für die wegen ihres Glaubens Verfolgten, für ungerecht Verurteilte, für unterdrückte Minderheiten, Deutsche, Krimtataren, Juden, aber auch für Arbeiter, die von der Obrigkeit schlecht behandelt werden. Ich bin überzeugt, daß er letztlich siegen wird. Es wird ein Sieg des freien Geistes über die brutale materielle Macht sein, ein Sieg des unsterblichen Geistes Rußlands."

Ob innerhalb des Ostblocks grundlegende Änderungen überhaupt noch denkbar seien?

Kopelew: „Es ist vieles in Bewegung — in Polen, Ungarn, Rumänien, in der DDR. Und es beginnt auch schon in Bulgarien. Auch in den westlichen Ländern gab es immer wieder Situationen, deren Änderung man sich damals nicht vorstellen konnte.

Es gibt viele Möglichkeiten und Handlungsweisen, um Veränderungen zum Guten herbeizuführen. Ich glaube an die Kraft der beweisenden und gestaltenden Worte der Menschen guten Willens, der Poeten und Prediger, Lehrer und Wissenschaftler, Politiker und Berichterstatter."

Jenen, die Weltpolitik machen, rät Kopelew, im Umgang mit der Sowjetunion Geduld zu zeigen. Brüskierung der sowjetischen Machthaber sei gleichermaßen gefährlich wie leichtgläubige Nachgiebigkeit. Der Westen müsse mit der Sowjetunion normale Beziehungen anstreben, aber nicht ohne Gegenleistung. Dazu zähle auch die Einhaltung der Menschenrechte.

Lew Kopelew wurde 1912 in Kiew geboren. Er ist Schriftsteller und unterrichtete bis zum Jahre 1968 an der Moskauer Universität Germanistik. Später erhielt er Berufsverbot und wurde mehrmals inhaftiert. 1981 wurde Kopelew ausgebürgert. Seither lebt er in der BRD.

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