Mit der Tradition im Gespräch sein

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Vernünftigkeit des Glaubens

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Vernünftigkeit des Glaubens

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Wenn ich ein Gedicht lese, dann frage ich nicht, ob das, was da steht, sich in Wirklichkeit genau so zugetragen hat. Ich lasse mich berühren (oder auch nicht), werde nachdenklich, ich revoltiere, hadere, bin begeistert oder sortiere vielleicht meinen Alltag neu.

Die Bibel ist mehr als ein Gedicht. Sie ist eine Bibliothek, ein Gewebe, ein Vermächtnis unserer Vorfahrinnen und Vorfahren, und obendrein das Gründungsdokument aller christlichen Kirchen. Trotzdem oder gerade deshalb werde ich den heiligen Texten nicht gerecht, wenn ich frage, ob das, was geschrieben steht, meinen begrenzten heutigen Vorstellungen von Vernunft und Realismus entspricht. Wie langweilig wäre das! "Entweder nehmen wir die Bibel wörtlich, oder wir nehmen sie ernst“, hat der Judaist Pinchas Lapide einmal gesagt. Das gilt auch für mich als Protestantin.

Mein Vertrauen erschöpft sich nicht in dem Glauben, dass Jesus von Nazareth "wirklich“ von den Toten auferstanden ist. Und es wird nicht kleiner, sondern größer, wenn ich erfahre, dass Maria keine "Jungfrau“ war, als sie ihren Sohn geboren hat, sondern eine beeindruckend eigenständige Vorgängerin, die erst skeptisch gefragt, dann entschieden "Ja“ gesagt hat zu einer grossen Aufgabe.

Die Bibel ist kein Buch, das ich als Ganzes annehmen oder ablehnen kann. Sie will täglich gebraucht werden. Wenn ich vertrauensvoll mit ihr unterwegs bin, dann traue ich mich auch, kritisch zu sein, oder zornig auf Texte, die brutal sind oder schulmeisterlich daherkommen, oder die mir nichts sagen. Vernünftig zu sein, bedeutet nicht, von meinen frommen Vorfahrinnen und Vorfahren exakte Tatsachenberichte zu erwarten. Vernünftig ist es, sich jeden Morgen neu und offen auf ein Gespräch einzulassen mit den Botschaften der Älteren, also mit dem, was wir "Tradition“ nennen.

* Die Autorin ist Schriftstellerin u. evang. Theologin in der Schweiz

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