Moral gibt es auch ohne Gott

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I m Talmud (Sanhedrin 105 a) vertritt Rabbi Joschua die Ansicht, dass alle rechtschaffenen Menschen - Juden und Nichtjuden - Anteil an der kommenden Welt haben. Dem folgt 1180 in der Mischne Tora der jüdische Religionsphilosoph Moses Maimonides, für den moralische Normen nicht auf irgendeiner Offenbarung beruhen, sondern vernunftmäßig erschließbar sind. In der Lehre über die noachidischen Gebote ist strittig, ob zu den Minimalanforderungen der Rechtschaffenheit die Anerkennung Gottes gehört, oder nicht. Jedenfalls findet sich in der rabbinischen Tradition, dass Gott dem Menschen durchaus verzeiht, wenn dieser nicht an Gott glaubt.

Gott braucht unseren Glauben nicht. Aber unser gerechtes Handeln ist ihm wichtig. Sind Handlungen also moralisch, weil Gott sie befiehlt, oder befiehlt Gott Handlungen, weil sie moralisch sind? Der griechische Philosoph Platon fragt sich das; als Jude würde man die zweite Alternative wählen. Damit kommt der Moral ein Eigenwert, losgelöst von Gott, zu.

Der frühere österreichische Verfassungsrichter Hans Kelsen (1881-1973), jüdischer Neukantianer und einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, würde Maimonides widersprechen, dass Moral auf der menschlichen Vernunft basiere. Er war der Ansicht David Humes, dass kein logischer Weg zu dem führe, was sich moralisch wünschen lasse. Auch der Biophilosoph Eckart Voland hält die Bedeutung der Vernunft für die Moral überschätzt: moralische Handlungen geschähen instinktiv, moralische Urteile seien stimmungsabhängig. Moral ist - so der Evolutionsbiologe Jerry Coyne - großteils angeboren und bietet einen evolutionären Vorteil. Jüdisch ausgedrückt: wir Menschen sind zur Moral berufen, weil wir Gottes Ebenbilder sind. Und: moralisches Handeln trägt seinen Wert in sich.

* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin

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