Aus arischen Bergen und Hütten verjagt

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Die alpine Gettoisierung Tausender jüdischer Bergsteiger und die Geschichte des jüdischen Alpenvereins Donauland in Österreich.

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Die alpine Gettoisierung Tausender jüdischer Bergsteiger und die Geschichte des jüdischen Alpenvereins Donauland in Österreich.

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Wohin ich geh'? Ich geh', ich wand're in die Berge. Ich suche Ruhe für mein einsam Herz!" Voll Todessehnsucht sind die letzten Worte des von Fin de Siecle-Stimmung eingehüllten "Lieds von der Erde". Zu Beginn des 20. Jahrhunderts komponiert der Wiener Hofoperndirektor Gustav Mahler dieses vorletzte Werk seines Lebens im Feriendomizil Toblach, umgeben von der wildromantischen Bergkulisse der Sextener Dolomiten. Die Metaphern Einsamkeit und Sehnsucht durchziehen auch die Berichte österreichischer Alpinisten der Jahrhundertwende, die in den Bergen Sinn und Erlösung von der Bedrängnis ihres Alltagslebens suchen. Zum obersten Verkünder eines Gefahrenalpinismus der Jahrhundertwende wird der Wiener Gymnasialprofessor Guido Lammer. Als des Bergsteigers höchstes Glück preist er, "wenn sich dieser bewußt in Gefahr begibt, die bebende Angst vor der Vernichtung kennenlernt und mit dem neu geschenkten Leben wieder aus den Bergen geht". Lammer ist ein Mitglied der Alpenvereinssektion "Austria". Neben ihm gehören so gut wie alle prominenten Wiener Bergsteiger der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts der Austria an. Ihr Mitgliederverzeichnis zur Jahrhundertwende zeigt ein idealtypisches Spiegelbild der liberalen, gutteils jüdischen Wiener Ringstraßengesellschaft.

Doch dieses Wien um 1900 ist auch die Stadt, in der Hitler lebt. Hier formt sich sein Weltbild, das in Wiens Bürgermeister Karl Lueger den großen Organisator der Massen und im deutschnationalen Politiker Georg von Schönerer den Verkünder völkischen Herrenmenschentums erblickt. Einer der engsten Freunde Schönerers ist der Bergsteiger Eduard Pichl. Er wird der radikalste Propagandist des Deutschnationalismus in den Wiener Alpinvereinen und verhilft dort der völkischen Agitation seines Vorbilds bereits um die Jahrhundertwende zum Durchbruch.

Arier eingeschleust 1921 wird Pichl mit Hilfe völkischer Turner in die Austria eingeschleust und in einer manipulierten Abstimmung der Arierparagraph durchgesetzt: Tausende "deutscher Volksgenossen" werden zum bezahlten Eintritt in die Austria geworben, um mit ihren Stimmen die zweitausend jüdischen Mitglieder der Austria zum Austritt zu zwingen. Gleichzeitig gründet Pichl zur Wiederaufrichtung der "Wehrhaftigkeit" nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Austria-Jungmannschaft, deren Mitglieder auch dem nationalsozialistischen Wehrverband "Deutsche Wehr" beitreten. Der Österreichische Touristenklub (ÖTK), mit 27.000 Mitgliedern der zweitgrößte österreichische Alpinverband, folgt dem Vorbild der Austria. Nach einer Agitationsrede des österreichischen NSDAP-Führers Walter Riehl wird im ÖTK der Arierparagraph mit einer Zustimmung von 97 Prozent angenommen.

Die 3.000 aus ihren Vereinen ausgeschlossenen Wiener Juden beantragen beim Hauptausschuß des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DÖAV) daraufhin die Gründung einer eigenen Sektion "Donauland", die mit einer Stimme Mehrheit genehmigt wird. Dagegen nehmen 41 von 110 österreichischen DÖAV-Sektionen Stellung, unterstützt von zahlreichen bayrischen und norddeutschen Alpenvereinssektionen, zusammengeschlossen im sogenannten "Deutschvölkischen Bund" (DVB).

Verzweifelt weigert sich dagegen das bürgerliche Judentum der Donauland, seinen Glauben an die deutsche Menschlichkeit des "Volkes der Dichter und Denker" aufzugeben und beschwört vergeblich den Assimilationstraum von der Zugehörigkeit zur deutschen Sprachnation. Doch dem aggressiven Nachkriegsantisemitismus stehen die Juden der Donauland in ihrem Glauben an deutsches Rechtsgefühl und Gewissenhaftigkeit nahezu hilflos gegenüber.

Der DVB, dem bis 1924 bereits die Hälfte der insgesamt 400 DÖAV-Sektionen angehört, verweigert Juden das Übernachten in seinen Hütten, gettoisiert damit Tausende jüdischer Bergsteiger bereits Mitte der 20er Jahre. Einer der wenigen Liberalen im Alpenverein, dessen Zivilcourage von Pichl als "Hetze in Permanenz" diffamiert wird, ist Philipp Reuter aus Essen, der die Brutalität der Gettoisierung Donaulands dokumentiert: "Als wir die Herren zur Rede stellten, was - abgesehen von den strafrechtlichen Folgen eines Unglückes - dann geschehe, wenn ein Jude im Schneesturm erfriert, ist uns die Antwort erteilt worden: Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an!" Franz Kleinhans vom ÖTK stellte fest: "Es gab eine Zeit im Alpinismus, da galt kein Besinnen wenn der Ruf erscholl: Menschen in Not! Heute fragt man sich in gewissen Kreisen bereits ängstlich, ob der Hilfeheischende nicht etwa Mitglied der Sektion Donauland sei."

1924 wenden 98 von 110 österreichischen AV-Sektionen bereits den Arierparagraphen an, und nach ihrem dreijährigen Verzweiflungskampf wird die Sektion Donauland schließlich in einer außerordentlichen Hauptversammlung mit 90 Prozent Stimmenmehrheit aus dem Alpenverein ausgeschlossen. Bereits ein Jahrzehnt vor der Gleichschaltung der deutschen Sektionen im NS-System 1933 setzt der Alpenverein - ein mit 250.000 Mitgliedern einflußreicher Interessensverband der Zwischenkriegszeit - damit wesentliche Teile der rassistischen Ideologie der Nazis in die Tat um.

Ausland protestiert Das Ausland reagiert teilweise heftig auf die "Affäre" Donauland, die dem internationalen Ansehen des DÖAV schwer schadet. Unmittelbar nach dem Donaulandausschluß machen sich auch die bayerischen und brandenburgischen Alpenvereinssektionen "judenrein". Die ausgeschlossenen Juden gründen den "Süddeutschen Alpenverein München" und den "Deutschen Alpenverein Berlin".

Die Hauptversammlung des Alpenvereins in Wien 1927 gerät zur großangelegten Demonstration der alldeutsch-antisozialistischen Einheitsfront. Der Wiener Polizeipräsident Johann Schober, verantwortlich für den Schußbefehl beim Justizpalastbrand im Juli 1927, wird als Garant der bürgerlichen Ordnung gefeiert. Der sozialdemokratische Touristenverein "Die Naturfreunde" konstatiert dazu bestürzt: "Die Freude der Bourgeoisie am Arbeitermord". Weiters beschließt die Hauptversammlung, ohne daß sich der Gesamtverband selbst durch einen offiziellen Arierparagraph die Finger schmutzig macht, die Zulässigkeit des Arierparagraphs für alle AV-Sektionen. Schließlich wird die "Wahrung und Pflege" der deutschen Volkstumsideologie satzungsmäßig festgelegt.

Gegen den heftigen Widerstand der 1930 geschlossenen "alpinen Einheitsfront": Alpenverein-Österreichischer Gebirgsverein ("deutscharisch" seit der Gründung 1890)-Touristenklub kann die Donauland insgesamt fünf Berghütten im Ostalpenraum erwerben. Von Hunderten Alpenvereinshütten im österreichischen und deutschen Teil der Ostalpen, dem interessantesten Bereich der alpinistischen Betätigungsmöglichkeiten, bleiben die jüdischen Bergsteiger ein Vierteljahrhundert lang - 1921 bis 1945 - ausgeschlossen.

Nach der Ausschaltung der Sozialdemokratie durch den austrofaschistischen Ständestaat 1934 werden auch die Naturfreunde aufgelöst. Wie viele TVN-Mitglieder geht auch der Bergsteiger Viktor Frankl zum Alpenverein Donauland, der nunmehr einzigen jüdischen Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einem Alpinverein. Frankl, Begründer der Logotherapie, entwickelt sich während seiner Zeit bei der Donauland zu einem so guten Bergsteiger, daß er es sogar bis zum Bergführer des Vereins bringt.

Nach dem Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland wird die Donauland noch im März 1938 aufgelöst. Frankl wird 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und verliert dort seine halbe Familie. Doch die von ihm beim Klettern "mobilisierte Trotzmacht des Geistes", die ihm half, die auftretende Angst zu überwinden, läßt ihn auch in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten nicht aufgeben. Frankl überlebt verschiedene Konzentrationslager, zuletzt Auschwitz.

"Donauland" nach '45 Einige der wenigen Überlebenden der vormals 180.000 Wiener Juden finden sich nach 1945 zusammen zur Wiedergründung eines eigenständigen Alpenvereins "Donauland". Der ehemalige Pächter der Hinteralmhütte in den 50er Jahren, Martin Holzer aus Neuberg an der Mürz, erinnert sich an den Rechtsstreit, in dem der Verein um die Rückgabe seiner Hütte kämpfen mußte. Holzer, als Zitherspieler und Sänger ein beliebter Hüttenwirt, sorgte an den Wochenenden für viele Besucher und großartige Atmosphäre. Ungern erinnerten sich die jüdischen Donaulandmitglieder, die regelmäßig die Hütte besuchten, an die Zeit vor 1945. "Die wollten das Ganze eher lieber vergessen", resümiert Holzer seine Erfahrungen.

Auch der Österreichische Alpenverein verfügt nach 1945 über eine selektive Erinnerung. Bis in die 80er Jahre tun sich die jeweiligen Vorsitzenden des Vereins schwer mit Bekenntnissen zur antisemitischen und nationalsozialistischen Vergangenheit ihres Vereins. Erst 1996 ringt sich der Alpenverein in einer öffentlichen Erklärung zum Eingeständnis von Schuld und Verdrängung seitens seiner Funktionäre und Mitglieder durch. Zur Zeit berät sogar die Austria in Wien, ihre "Eduard Pichl-Hütte" in Kärnten umzubenennen. Vielleicht gelangt damit auch diese Alpenvereinssektion zum ehrlicheren Geschichtsbild einer Vergangenheit, die von ihren Vorfahren mitbestimmt oder zugelassen worden ist.

Der Autor ist Sporthistoriker, Alpinausbildner, Konsulent des ORF ("Land der Berge) und Verfasser des alpinen Standardwerkes: "Der Alpinismus: Kultur - Organisation - Politik", Wien 1996.

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