Es fehlen die "Reibebäume"

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Die Jugendkultur ist für die Elterngeneration oft kaum mehr verständlich. Woran das liegt und wie damit umgegangen werden kann, war Thema der Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg.

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Die Jugendkultur ist für die Elterngeneration oft kaum mehr verständlich. Woran das liegt und wie damit umgegangen werden kann, war Thema der Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg.

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Aufgang, Untergang, Übergang - Leben in der Zeitenwende" war das Thema der diesjährigen "48. Internationalen Pädagogischen Werktagung" in Salzburg. Weil die Elterngeneration selber weitgehend orientierunglos ist, ist es für die heutigen Jugendlichen besonders schwer, sich zu emanzipieren und "Gegen-Welten" etwa in Form profilierter eigenständiger Jugendkulturen zu entwickeln. In einer Phase allgemeiner Orientierungslosigkeit mangle es vielen Erziehenden und Lehrenden selbst an klaren Lebensentwürfen und Denkhorizonten, war der Grundtenor. Damit aber würde es der jungenGeneration noch schwerer gemacht, eigene Wege und Identitäten zu schaffen:Woran soll man sich orientieren, wenn es nicht einmal etwas gibt, gegen das sich so richtig protestieren läßt?

Über Gefahren und Chancen einer für "Erwachsene" oft nur schwer begreifbaren Jugendkultur sprach in Salzburg der Stuttgarter Jugendpsychiater Reinmar du Bois.

Was bewegt Kinder und Jugendliche heute? Sind sie heute Gefahren ausgesetzt, an die unsere Eltern selbst in ihren schlimmsten Vorstellungen nicht zu denken wagten? Oder ist die heutige Jugend eine zahme, den Konsumvorschriften treu folgende Schafsherde, verglichen mit den "Wölfen" der inzwischen gereiften 68er-Generation? Reinmar du Bois, Jahrgang 1948, versuchte vor dem Auditorium von rund achthundert "Jugendspezialisten", Pädagoginnen und Pädagogen, Kindergärtnerinnen oder Beratungslehrern, Chiffren der modernen Jugendkultur "lesbar" zu machen.

Arbeitsschwerpunkt des Stuttgarter Psychiaters ist die Jugend-Schizophrenie. In seinem neuesten Buch "Jugendkrise" präsentiert er Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zum Thema "Jugendkultur". Die "Übergangsrituale und Jugendkulturen" standen in Salzburg im Mittelpunkt.

Zynische Eltern "Es ist ein Irrtum zu glauben, daß Jugendkulturen immer grimmig gegen herrschende Tendenzen zu Felde ziehen müßten. Heute bilden bekanntlich die modernen Medien die wichtigsten Vorlagen und Inhalte der Jugendkultur. Das wird aber nur so lange bleiben, als die Medien den Erwachsenen noch unheimlich sind." Für Reinmar du Bois sind die Jugendkulturen weltanschaulich und gar politisch eher diffus und nichtssagend. "Es wird jedenfalls gerade kein Umsturz vorbereitet." Das liege nicht zuletzt daran, daß die heutigen Eltern sich nicht als "Reibebäume" oder Zündflächen eigneten, aus denen die Triebe oder Flammen einer protestierenden Gegenkultur schlagen könnten: "Die Position der Eltern bleibt unklar. Man muß viele von ihnen heute als unschlüssig, manche sogar als orientierungslos bezeichnen. Sie geben sich ein wenig zynisch, ein wenig empört, ein wenig überlegen, ein wenig ohnmächtig, ein wenig bemüht."

Sollen die Eltern und Lehrenden von heute nicht einmal des Protestkampfes mehr wert sein?

Auch über Politik könne man mit den Sprößlingen ehemals politisch engagierter Eltern kaum reden: "Sie äußern sich nicht kämpferisch, sondern eher mit Stammtischgegrummel."

Die Jugendkulturen seien, so der Psychiater und Jugendforscher, bloß Ergebnis flüchtiger Experimente etwa mit der Frage "wie man mit einem hohen Maß an Freizeit, Leerlauf und Sinnlosigkeitsgefühl leben kann, ohne zu verzweifeln, und wie man eine hohe Reizaufnahme verkraften kann." Elektronische Ersatz- und Scheinwirklichkeiten böten keine Befriedigung des starken Beziehungs- und Erlebnishungers der jungen Leute.

Wächst tatsächlich eine völlig harmlose Jugend heran, die das Establishment höchstens mit ihrer Hyperaktivität und Netz-Verstricktheit irritiert?

Diese Frage sei so leicht nicht zu beantworten, da - typisch für Jugendkultur - Erwachsene weitgehend ausgeschlossen seien. Aber der Jugendspezialist tröstet: "Es bringt nicht viel, jede Modeerscheinung verstehen zu wollen."

Eine Möglichkeit, dem unverständlichen Treiben der Nachkommenschaft möglichst gelassen zuzusehen, sei es, auf die jugendinternen Selbstschutz-Mechanismen zu vertrauen: "Man übersieht oft, daß die Jugendlichen auch Sicherungen einbauen. Die wichtigste Sicherung besteht darin, daß Jugendliche in der Lage sind, ebenso schnell, wie sie sich auf etwas eingelassen haben, auch wieder davon Abstand zu nehmen." Die Jugendkultur sei so künstlich, unwirklich, unvernünftig, manipuliert und phantastisch, daß sich die Jugendlichen, wenn notwendig, jederzeit von ihr absetzen können. Ein Jugendlicher könne jederzeit sagen: "Das war nicht ich, sondern nur eine Mode."

Extreme wie Bungee-Jumping, Tätowierungen oder Piercing etwa seien oft nur ein Ausdruck der Sehnsucht nach "eigenen, starken Erlebnissen". Heute würde, so du Bois, "im Gegensatz zu den Text-Manifesten der 68er-Generation der eigene Körper zum Kunstprodukt".

Reinmar du Bois sieht eine weitere Ursache für die niedrige Halbwertszeit der Jugendkulturen in der Ziel- und Planlosigkeit der Erziehung: "Es läßt sich kein Leben ausmachen, auf das wir unsere Jugend vorbereiten könnten. Unser Vorstellungsvermögen versagt!"

Ein Spiegel dafür ist für den Psychiater du Bois der Film "Lola rennt": Wie die Heldin dieses Streifens rennen die Jugendlichen "von Wirklichkeit zu Wirklichkeit, aber ohne definiertes Ziel". Interessanterweise würden etablierte Statussymbole wie Beruf und Konsum von den Jugendlichen ebenso akzeptiert, wie von den Eltern. "Kaufbare Güter sind wichtige Umschlagware und Inhaltgeber für viele moderne Jugendkulturen.

Dennoch gibt es einen Haken: Es fehlt das Geld. So entpuppt sich - im Schatten einer ausufernden Kultur des Konsums - ein Teil der Jugendkultur als Armutskultur mit der Gefahr des Abgleitens in Kleinkriminalität."

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