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Grönlands Tragödie

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Es erregte kürzlich Aufsehen, daß der Abgeordnete für Grönland im dänischen Folketinget, Knud Hertling, die Politik der dänischen Regierung auf Grönland einer scharfen Kritik unterzog. Hertling scheute sich nicht, zu behaupten, daß diese Politik die Ureinwohner der Insel keineswegs zum selbständigen Handeln und zur Eigenverantwortung erziehe, sondern sie im Gegenteil in Lebensuntauglichkeit hineinstoße. Die Dänen, die bisher vollständig davon überzeugt gewesen waren, daß ihre Aufbaupolitik das einzig Richtige auch für die Grönländer selbst sei, fragten sich nun, tief beunruhigt, ob sie möglicherweise alles falsch gemacht haben.

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Es erregte kürzlich Aufsehen, daß der Abgeordnete für Grönland im dänischen Folketinget, Knud Hertling, die Politik der dänischen Regierung auf Grönland einer scharfen Kritik unterzog. Hertling scheute sich nicht, zu behaupten, daß diese Politik die Ureinwohner der Insel keineswegs zum selbständigen Handeln und zur Eigenverantwortung erziehe, sondern sie im Gegenteil in Lebensuntauglichkeit hineinstoße. Die Dänen, die bisher vollständig davon überzeugt gewesen waren, daß ihre Aufbaupolitik das einzig Richtige auch für die Grönländer selbst sei, fragten sich nun, tief beunruhigt, ob sie möglicherweise alles falsch gemacht haben.

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Knud Hertling konnte darauf hinweisen, daß sich bereits mehr als 6000 Dänen auf Grönland fest niedergelassen und daß diese 6000 so gut wie jeden Posten und jeden Arbeitsplatz von Bedeutung besetzt hätten. Der wichtigste Ort der Insel, Godthaab, ist mit 2000 dänischen Bewohnern eine dänische Stadt. Die Grönländer, die früher zumindest über ihr Alltagsleben hatten selbst bestimmen können, haben kaum noch etwas zu sagen. Anstatt zur Aktivität und zur Mitarbeit hat man den Grönländer zum Zuschauen und zur Resignation erzogen. Man hat ihm die Auffassung beigebracht, daß er die Funktion eines modernen Gemeinwesens weder zu verstehen noch zu erfüllen vermöge. Der Grönländer hat heute — nach Hertling — kaum mehr die Möglichkeit, sich in seinem eigenen Land zu bewegen. In den wenigen kleinen Städten bestimmen die Dänen, und im Norden dieser größten Insel der Welt regieren die amerikanischen Militärs. Das Sperrgebiet erstreckt sich in der Praxis weit über das Gebiet von Thüle hinaus. Über dem ewigen Eis der Insel aber dröhnen ständig die Atombomber der großen Supermacht im Westen und erinnern die Grönländer daran, wie unsicher der Boden geworden ist, den sie durch Jahrtausende allein bewohnt haben!

Als Hertling seinen Angriff beendet hatte, befanden sich im Sitzungssaal des Folketinget kaum zwanzig Abgeordnete. Die Vertreter Grönlands stellten erbittert fest, daß man in Kopenhagen die Stimme des kleinen Inselvolkes nicht hören wolle... Nun sei hier ein für allemal festgehalten, daß die dänische Regierung weder einen Herrschaftsanspruch erhebt noch eine Ausplünderungspolitik betreibt. Man hat viele hundert Millionen Kronen für Investitionen ausgegeben, und die vorliegenden Pläne sehen weitere Aufbauarbeiten im Werte von 500 Millionen Kronen vor. Doch die Lage der Insel, der vermutete Reichtum an Bodenschätzen, die menschenleeren Weiten und andere Umstände lockten auch viele Unternehmen und Einzelpersonen an, deren Tun und Lassen nicht aufbauend, sondern zersetzend wirkt. Der Alkoholismus und die Geschlechtskrankheiten, diese teuflischen Importe, greifen an die Lebenswurzeln des grönländischen Volkes. Die schrittweise Beseitigung der alten primitiven Lebensgewohnheiten hat die Grönländer keineswegs gesünder, sondern eher anfälliger für alle Arten von Krankheiten gemacht. Was — möglicherweise — gut gemeint war, wurde zum Verhängnis: Manches deutet darauf hin, daß sich auf Grönland eine Tragödie anbahnt.Die Fischerei bringt nicht mehr das ein, was man heute zum Leben braucht. Die Bedürfnisse sind rascher angewachsen als die Möglichkeiten, sie zu befriedigen. Die Fangmethoden sind veraltet, und es fehlen das Geld und oft auch der Wille, sie zu verbessern. In Sichtweite der Küste aber holen Fischer anderer Nationen das Silber des Meeres in Mengen aus-der Tiefe des Nordatlantik.

Mitunter bringt eine Laune der Natur den Reichtum der See sozusagen bis vor die Haustür der Grönländer, doch dann weiß man nichts damit anzufangen: „Wenn der liebe Gott den Brei gibt“, sagt man, „dann versagt er uns den Löffel!“ — Vor einigen Wochen trieb das Eis tausende Weißwale hinein in die Discobucht bis an die Küste. „Savssat“ nennen die Grönländer dieses sehr selten auftretende Phänomen: Das Eis versperrt den Walen die Rückkehr in das offene Meer. Was geschah in diesen Tagen? Was die wirtschaftliche Sorge eines Jahres hätte beseitigen können, wurde zu einer blutigen Schlächterei! Man tötete und tötete, ohne Rücksicht darauf, ob man das Großwild des Meeres nachher auch bergen könnte! Man nimmt an, daß mehr als tausend Weißwale getötet wurden — und nur ein geringer Bruchteil konnte geborgen werden! In einem anderen Fall sammelten sich bei Holsteinsborg große Herden von Wildrentieren, vom harten Winter geplagt. Auch hier setzte eine besinnungslose Schlächterei ein, der die ermatteten Tiere nicht entfliehen konnten. Man befürchtet, daß das grönländische Rentier dabei nahezu ausgerottet worden ist! Der Grönländer ist ein hilfloses Überbleibsel einer primitiveren Vergangenheit in einer technisierten Welt, die er nicht zu begreifen vermag.

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