Werbung
Werbung
Werbung

Amos Oz' Märchen "Plötzlich tief im Wald" wendet sich gegen die Erniedrigung des Anderen.

Der Ton ist märchenhaft. Die Geschichte aber, die Amos Oz erzählt, behandelt jene Fragen, die den großen hebräischen Schriftsteller und Friedensaktivisten seit jeher beschäftigen: Historische Konflikte, Ausgrenzung, gelingendes und scheiterndes Gemeinschaftsleben. Oz' kurzes Märchen, das den Titel "Plötzlich tief im Wald" trägt, richtet sich gleichermaßen an Kinder und Erwachsene. Es spielt in einem aus der Zeit gefallenen "Es-war-einmal-Dorf", aus dem vor Jahrzehnten in einer Winternacht alle Tiere verschwunden sind: "Eine seltsame Stille hing über ihm, keine Kuh muhte, kein Esel schrie, kein Vogel zwitscherte, nie flog eine Schar Wildgänse über den leeren Himmel, und auch die Menschen dort sprachen wenig miteinander, nur das Allernötigste." Was in diesem von einem Bannfluch getroffenen Dorf im Argen liegt, darf auch nicht erwähnt werden. Wer das kollektive Schweigegebot bricht, wird mit Spott und sozialer Isolation bestraft.

Erkenntnis im Wald

Es sind zwei neugierige, eigenwillige Kinder, die ihrer Intuition mehr vertrauen als der gesellschaftlichen Übereinkunft und sich auf die Suche nach den Tieren und auf den Weg in den verbotenen Wald des Bergteufels Nehi machen. Maja und Mati erinnern an Hänsel und Gretl: Wie die Grimm'schen Märchenkinder wird ihnen der Wald zum Abenteuer. Nur ist dieser Wald bei Oz kein Irrgarten, sondern ein Ort, der zu Erkenntnis und Horizonterweiterung führt, gerade weil er den Dorfbewohnern als Tabuzone gilt, die niemals, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit betreten werden darf.

In den Figuren von Maja und Mati lehrt Oz, dass Entwicklung nicht vom Mainstream ausgeht. Es sind jene, die ein wenig am Rand stehen, denen sich der Blick auf die Verkrustungen, Widersprüche und Vorurteile eröffnet, von denen ihre Umgebung beherrscht wird. So sagt Maja, "ein sehr eigensinniges Mädchen", zu ihrer Mutter: "Das ganze Dorf ist verrückt, Mama, und du bist noch ein bisschen verrückter." Majas und Matis Sympathien gelten den Außenseitern im Dorf: Almon, dem einsamen Fischer, der mit sich selbst oder seiner Vogelscheuche streitet und den Kindern des Dorfes aus Holz geschnitzte Tiere schenkt. Oder ihrem verspotteten Schulkollegen Nimi, der nicht aufhören will, von Tieren zu träumen und zu sprechen, schließlich von "Wieheritis" befallen wird und als wieherndes Fohlen Tag und Nacht durchs Dorf und die Wälder zieht.

Für einen Augenblick glauben Maja und Mati im Fluss einen Fisch gesehen zu haben - "etwas Unmögliches, Flimmerndes, Glänzendes, Zappelndes ... mit zitternden, tanzenden Schuppen": Dieses Erlebnis wird zu ihrem wohl gehüteten Geheimnis. Es schweißt sie zusammen und gibt ihnen die Energie für den Aufbruch in den Wald.

Eintracht wie im Paradies

Die Moral von Oz' zauberhafter Fabel ist unmissverständlich: Er wendet sich darin gegen die "Hohn-und Spottkrankheit" und die Erniedrigung des Anderen. Und er zeigt, wie eine Gemeinschaft, die keinen Widerspruch duldet, zu einer Zwangsjacke wird, die jede Entwicklung erstickt. Als märchenhaftes Vehikel der Friedensstiftung und als Gegenmittel gegen die wechselseitige Zerfleischung im Tier-und Menschenreich wachsen in Oz' Geschichte Sträucher, deren weiße und lila Beeren nach Fleisch schmecken und die so das Töten und Schlachten überflüssig machen könnten. Deshalb gleicht das Reich des Bergteufels Nehi, auf das Maja und Mati im Wald stoßen, dem christlichen Paradies. Darin herrscht unter allen Lebewesen Eintracht und Gewaltlosigkeit.

Doch Oz beschließt seine Geschichte nicht mit diesem idyllischen Bild. Das zeigt seine kämpferische literarische Ambition: Das offene Ende, in dem ein von den Menschen enttäuschter, verbitterter Bergteufel Nehi die Kinder Maja und Mati mit einer Mission zurück in ihre Welt schickt, ist ein Appell an den Leser, sich um eine Zukunft zu bemühen, in der wir Menschen leben können, "ohne Jäger zu sein oder zu Gejagten zu werden und ohne uns gegenseitig zu verspotten."

Plötzlich tief im Wald

Ein Märchen

Von Amos Oz

Aus dem Hebr. von Mirjam Pressler

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006

112 Seiten, geb., e 13,10

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung