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Bewegung, Umwälzung, Kreisbewegung: Peter Webers Roman "Die melodielosen Jahre".

Ende der achtziger Jahre improvisierte Oliver in Gewitterwolken, Entladung suchte er in den Überhöhen, in Obertonvulkanen, springenden Punkten, in gestischen Fechtereien oder in untergründigem Mulm, Basswolken, ungestalt … freie Musik hatte arhythmisch zu sein oder setzte an, wo der Groove übersteigert wurde in den Puls, das Spielen am Nerv, reiner Vibration. Frei improvisierte Musik war wachsam für das Nahe und Nächstliegende, sie blieb blind für das Künftige."

Im vierten Roman Peter Webers, Die melodielosen Jahre, beschreibt ein erzählendes Alter Ego namens O(liver) oder auch Mr. Please (im Londoner Kapitel, das sich auf originelle Weise mit Gullivers Reisen auseinander setzt) die eigene künstlerische Entwicklung, beginnend im umwälzenden Wendejahr 1989 bis in die Gegenwart.

Elektronische Epoche

Die titelgebenden melodielosen Jahre sieht O(liver) durch den Beginn der elektronischen Epoche eingeläutet, das plötzliche Auftauchen repetitiver elektronischer Musik: "Menschen, die sich selbstverständlich durch die Nacht bewegten, entlang von Tönen, denen sie zuvor nie begegnet waren, Reizleitung unterirdisch, es war keine Musik, es waren Raumerweiterungssignale, einleuchtend, lockend, alarmierend, stehende Veränderung, laufende Wandlung … Als Tonkörper neben ihnen standen, die nicht mehr Musik zu nennen waren. Als sie in den großen Rechner fielen, der plötzlich überall war."

Eine herkömmliche Handlung im Sinne einer linearen Erzählung gibt es nicht, die 13 Kapitel, deren sprechende Titel das jeweilige Generalthema vorgeben, können auch als geschlossene Einheiten aufgefasst werden, die sich selbst nochmals - durch Zwischenüberschriften angezeigt - rhythmisch feiner untergliedern beziehungsweise Motive meist in Dreiergruppen variieren.

Das 5. Kapitel namens "Alexanderpilz" mag das veranschaulichen: Oliver ist in den Wäldern der Ostschweiz auf Pilzsuche, wobei auch psychoaktive "Fantasiepilze" sein Interesse wecken, darauf folgt eine Überleitung zum Berliner Fernsehturm, eben jenem Alexanderpilz, bis Oliver schließlich an einer verschleppten Pilzerkrankung des Ohres laboriert."

O(liver) ist permanent in Europa unterwegs, wobei der Anlass der jeweiligen Reisen in der Erzählung ausgespart wird. Bahn, Schiff, aber auch Flugzeug halten ihn ständig in Bewegung. Den Takt dazu gibt aber die Bahn, denn "O ist bahnsozialisiert, ganz Kind des helvetischen Gleichtaktes."

Grenzen und Wenden

Grenzbezirke im ehemaligen Osten fordern zur permanenten Überschreitung heraus, wobei auch die europäische Wasserscheide im Schwarzwald oder die Jahrtausendwende, der "Oliver mit einem improvisierenden Streichquartett im neuesten weißen Zug der deutschen Bahn" entgegenstürmt, solche Grenzbereiche sein können.

Auch die vorherrschenden Elemente Wasser und Wind verdeutlichen diese permanente Bewegung, Umwälzung und Kreisbewegung. Sei es der Bosporus oder Windkraftanlagen in Baden-Württemberg, deren dreiflügelige Rotorblätter sich verfremdet wieder auf einem alten Verkehrsschild wiederfinden, dem linksdrehenden "Londoner Urkreisel" mit drei gebogenen Pfeilen, das im Wasser der Themse gewaschen wird, womit das eine Element ins andere zurückkehrt. Dazu passt auch die mehrmalige nächtliche Umkreisung des Warschauer Kulturpalastes auf der vergeblichen Suche nach einem Tanzlokal, welche Oliver zu einigen erfrischend komischen Begegnungen mit dem Wachpersonal sowie einer Katze namens Chopin verhilft.

In die fast einhellige Begeisterung der Kritik (ausgenommen Iris Radisch in der Zeit) mag der Rezensent trotzdem nicht ganz einstimmen. Manchmal überlastet der gesucht originelle Ausdruck die Tragfähigkeit der Sprache und verzerrt Bilder ins Groteske, wie zum Beispiel: "… es begann augenblicklich schwarze Säfte zu regnen, die rollenden Tintenfässer wurden über dem Feld ausgegossen, Gottes mächtiger Tintenstrahldrucker war im Einsatz, Platzregen, höhere Schreibe." Trotzdem: Peter Webers liefert ein beeindruckendes Stück durchkomponierter Prosa, das dem Schweizer Autor und Musiker jüngst den renommierten Solothurner Literaturpreis einbrachte und seine Leser fordert, für die Mühe aber auch belohnt.

Die melodielosen Jahre

Roman von Peter Weber

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007

192 Seiten, geb., € 17,30

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