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Ahnherr der deutschen Modernen

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PROSA. DRAMEN. VERSE. Von Fr nk Wedekind. II. B nd. Verlag Langen-MUller, München. 1964. 850 Selten. Preis 36 DM.

Heuer jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag Frank Wedekinds, und die runde Zahl rückt so ins rechte Licht, was man gerade bei diesem deutschen Dichter, angesichts mancher erzwungenen Problematik, manch geschraubter Wendung gern vergißt: daß er nämlich, seiner Zeit weit voran, der Ahnherr des deutschen Expressionismus und damit der modernen deutschen Literatur war. „Frühlingserwachen”, sein erstes Stück, fällt zeitlich zwischen die Aufführungen von Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang” und „Die Weber” und steht sowohl inhaltlich wie auch formal im krassen Gegensatz zu dem damals maßgebenden Naturalismus Ibsens und eben Gerhart Hauptmanns. Anstatt einer durchgehend konstruierten und eng geknüpften Handlung, zeigt das Erstlingswerk eine durch keinerlei Logik verknüpfte Reihenfolge von kurzen, expressiven Szenen. Die Problematik ist nicht dem Bereich des Gesellschaftlichen entnommen, sondern demjenigen der Gefühle: die Verwirrungen der Pubertät sind in einer expressiven, oft lyrischen Sprache vorgetragen, die lockere Handlung aggressiv und skandalös. Im nächsten Stück. „Der Erdgeist” wie auch in „Die Büchse der Pandora”, die den Triumph und Abstieg von Lulu, einer „Femme fatale”, schildern, bewährt sich Wedekind mit der Problematik der Begierde, des Geschlechtlichen. Eine knappe Sprache, schemenhafte Charakterzeichnung und fast allegorische Handlung zeigen ihn als Nachfolger von Büchner und Grabbe und weisen zugleich zwanzig Jahre voraus, mitten in den deutschen Expressionismus.

Im vorliegenden 2. Band der Lsngen-Müller-Ausgabe, die auf der von Artur Kutscher uncl Richard Friedenthal zusammengestellten neunbändigen Gesamtausgabe aus dem Jahr 1924 basiert, sind die späteren Dramen „Schloß Wetterstein” und „Franziska” (1910, beziehungsweise 1911) enthalten, einige kleinere dramatische Arbeiten, dann Erzählungen und Lyrik. Die Prosaarbeiten Wedekinds zeigen dieselbe Thematik wie die Stücke, doch die Sprache ist weniger gerafft, weniger überzeugend, die Form konventionell. Die Lyrik ist voll aggressiver Ironie, bewußter Banalitäten, und ihr unmittelbares Ziel ist der Spott, dessen Gegenstand die bürgerlichen Gefühlskonventionen sind. Man begreift, warum Wedekind im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in Deutschland kein Verständnis gefunden hat. Sogar für einen Skandal war die Zeit noch nicht reif. Dafür haben seine Stücke trotz der Pedanterie und oft verquälten Problematik auch heute noch ihre Bedeutung bewahrt.

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