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Muttertrieb als Verbrechen

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Seit dem Tod von. Gerhart Hauptmann sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Wie tot ist er? hat man gefragt. Von seinen 47 Dramen werden fast nur noch die naturalistischen Stücke gespielt. Im Hauptmann-Jahr 1962 war es die Tragikomödie „Die Ratten”, die am häufigsten, an 14 Bühnen neu inszeniert wurde. Derzeit sieht man sie im Volkstheater.

Georg Lukacs wirft dem Naturalismus generell vor, daß da der „subjektive Horizont der einzelnen Gestalten” nicht von einem „objektiven Horizont” überwölbt werde. Wo steckt also die Idee in den „Ratten”? Gerhart Hauptmann spricht in einer Selbstinterpretation des Stücks von dem „Gegensatz zweier Welten”, womit er die Theaterwelt des Direktors Hassenreuter und die Welt der Mietskaserne, in der Frau John wohnt, meint. Er spricht von einem Komplex von Personen, von Schiieksaisverflechtungen, die „gleichnisweise etwas vom tragischen Gehalt des blinden menschlichen Daseins” darstellen. Aber diese Verflechtungen zwischen den beiden Walten wirken willkürlich.

Gerhart Hauptmann behauptet auch, daß da eine Tragödie und eine Komödie unlöslich ineinander verschlungen seien. Genau das ist nicht der Fall. Es ist das keine Tragikomödie, das Komische, nicht mehr ausgebildet, steht innerlich unverbunden neben dem Tragischen. Die Tragikomödie verlangt entgegengesetzte Aspekte eines einzigen Geschehens. Das Stück ist ein Konglomerat. Und der „objektive Horizont” fehlt.

Aber diese „Ratten” haben erhebliche szenische Vorzüge. Vermag zwar das nur im Privaten verankerte tragische Schicksal der Frau John, die ihrem vehementen Muttertrieb be denkenlos folgt, wie auch das des ebenfalls von diesem Trieb beherrschten polnischen Dienstmädchens Piperkarcka in der heutigen Zeit, in der es Millionen Opfer politischer Verbrechen gibt, nicht mehr gleich stark wie früher zu ergreifen, so strotzen beide Gestalten doch von Leben und sind meisterhaft gezeichnet. Das gilt aber auch für die anderen Figuren, die völlig verschiedenen sozialen und moralischen Ebenen zugehören. Ja, diese Mietskaserne, in der alles fault, in der alles von Ratten unterminiert wird — Symbole Ibsenscher Art für eine „unterirdische Welt des Leidens, der Laster und Verbrechen”, wie dies Gerhart Hauptmann bezeichnet —, diese Mietskaserne wird Erlebnis.

Nun freilich sollte Gustav Manker als Regisseur das ohnedies stark Emotionale nicht noch ins Theatralische steigern, so daß Hilde Sochor die Frau John in Rasanz ausspielt. Überdies spricht sie das Berlinerisch so, daß man nur wenige Worte versteht. Ihr Bruder Bruno gemahnt durch Harry Fuss zu sehr an Theaterbösewichte. Das annähernd Komödienhafte dürfte nicht zur Posse ausarten. Heinrich Trimbur faßt den Theaterdirektor Hassenreuter völlig falsch auf, das ist kein Fesčhak mit Spaß an der Pathetik, sondern ein typischer Mime von einst, dem Bombast Lebensbedürfnis ist. Biederkeit strömt Herbert Propst als John aus, Ingrid Fröhlich hat das Gehetzte der Piperkarcka. Vortrefflich zeichnet Wolfgang Hübsch, den Spitta als optisch kümmerlich wirkenden jungen Menschen, der aber überraschend Lebensenergie bekundet. Die naturalistischen Bühnenbilder von Gustav Manker vermitteln überzeugend den Eindruck einer von Ratten unterminierten Mietskaserne.

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