Rechnitz - © Foto: Philine Hofmann

„Rechnitz“ – Zwischen Trash, Horror und einer Wirklichkeit, die gestaltet werden muss

19451960198020002020

Anna Bergmann inszeniert Elfriede Jelineks Theatertext als Gruselshow im Theater in der Josefstadt.

19451960198020002020

Anna Bergmann inszeniert Elfriede Jelineks Theatertext als Gruselshow im Theater in der Josefstadt.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn die Opfer nicht mehr sprechen können und die Täter schweigen, braucht es Boten, die berichten. Elfriede Jelinek verwendet in ihrem 2008 verfassten Theatertext „Rechnitz“ ein Stilmittel der griechischen Antike, um zu erzählen, was man nicht darstellen kann, nämlich das Massaker im März 1945, als mehr als 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter im Südburgenland ihr eigenes Grab schaufeln mussten und dann von NS-Bonzen erschossen wurden. Inmitten der Mörder befand sich Gräfin Margit Batthyány, die unmittelbar vor dem Einmarsch der Roten Armee für die örtliche NSDAP und die SS ein Gefolgschaftsfest auf dem Schloss der Batthyány-Thyssen-Dynastie in Rechnitz veranstaltete, im Zuge dessen die unfassbare Ermordung der Zwangsarbeiter erfolgte.

Letzten Samstag fand die Premiere in der Josefstadt statt, Anna Bergmann inszenierte Jelineks Text als Gruselshow, in der die Nazis als kahlköpfige Gespenster ihre eiskalte Politik betreiben. Die Bühne dreht sich – wie das Rad der Geschichte – in einem fort, während die Mörder in glitzernden Kostümen und gutsitzenden Uniformen Champagner trinken, singen und tanzen, andere und sich selbst erschießen. Sind dies überhaupt Menschen oder Vampire, Monster, die aus den Haaren der Ermordeten Perücken herstellen, um sich zu verkleiden?

Bei Bergmann sind sie vor allem Zitatmaschinen, die die Diskurse rechter Politiker, populistischer Medien und linker Geschichtsphilosophen verknüpfen. Vom Schnürboden sinkt ein milchig-transparentes Plastikzelt über die Darsteller, sie sind gefangen im Verdrängen, wie die Gäste in Luis Buñuels surrealistischem Filmdrama „Der Würgeengel“ (1962), das Jelinek als weiteren Eckpunkt des Dramas definiert. Ein schrecklicher Zauber hält sie in ihrem Bann, ein mörderischer Engel steuert sie. Sona MacDonald als Gräfin singt „Leise, leise, fromme Weise“ aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“.

Den Opfern eine Stimme geben

Der Spuk des Schweigens wird von Jelinek aber gebrochen. Sie gibt den Opfern eine Stimme, die nachklingt und die auch die Bedeutung heutiger Verantwortung anspricht. Wenn die Nachgeborenen (Dominic Oley, Oliver Rosskopf) vor ihrem biederen Vorstadthaus Würstel grillen und über „Menschen auf der Flucht oder ähnliches Gesindel“ schimpfen, dann braucht es noch viele Stimmen dagegen.

Bei Bergmann gibt es aber Hoffnung: Am Ende des zweistündigen Abends reißt sich Sona MacDonald die Latexglatze vom Kopf und zieht ein schwarzes Kleid an. Sie verwandelt sich in einen Menschen und singt das jüdische Gebet „El male rachamim“, während ein Video die Schauspielerin beim Rechnitzer Kreuzstadel zeigt, also am Ort des Verbrechens, Steine einsammelnd, um den Ermordeten ein spätes Begräbnis zu widmen. Beim Applaus tragen alle Darsteller Schwarz, ein passendes Ende für eine gelungene Inszenierung zwischen Trash, Horror und einer Wirklichkeit, die gestaltet werden muss.

Die Autorin ist freie Theaterkritikerin.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung