Angekommen, doch sie sind gar nicht da

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Jelineks Flüchtlingsstück "Die Schutzbefohlenen" kehrt mit Thalheimers Inszenierung nach Wien zurück, an den Ort des ursprünglichen Geschehens.

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Jelineks Flüchtlingsstück "Die Schutzbefohlenen" kehrt mit Thalheimers Inszenierung nach Wien zurück, an den Ort des ursprünglichen Geschehens.

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Anlass zu ihrem Textmassiv waren für Elfriede Jelinek konkrete Ereignisse: die Besetzung der Wiener Votivkirche durch rund 60 meist pakistanische Asylwerber, die damit im November/Dezember 2012 (letztendlich erfolglos) gegen ihre Abschiebung und Kriminalisierung protestiert haben, sowie die unübersehbar gewordenen Katastrophen an den Grenzen Europas. Sie verschränkt diesen Vorfall sowie die Schiffskatastrophen vor der Mittelmeerinsel Lampedusa mit Aischylos' antiker Tragödie "Die Schutzflehenden", in der 50 Frauen aus Ägypten fliehen, um der Zwangsverheiratung zu entgehen, wodurch der König von Argos in ein moralisches Dilemma gerät.

Wie der Titel schon anklingen lässt, nutzt Jelinek (ein weiteres Mal) ihren Einfluss, den sie als Literaturnobelpreisträgerin zweifellos hat, um der saturierten, durch eigene Probleme hartherzig gewordenen mitleidlosen Gesellschaft ihre Scheinheiligkeit, Ignoranz für menschliches Leid und mangelnde Barmherzigkeit, die Verletzung der Fürsorge in einer zornigen An-Klage vorzuhalten. Jelinek wirft den westlichen Wohlstandsgesellschaften vor, immer nur von humanitären Werten, Menschenrechten und Integration zu sprechen und stattdessen Ausgrenzung zu betreiben. Für sie besteht eine moralische Pflicht zur Fürsorge. Im Stück heißt es einmal: "Wir haben nichts, für uns spricht niemand, und selbst sprechen wir auch nicht, nein, auch unsere Toten sprechen nicht, und schon gar nicht für uns". Und weil das so ist, tut es Elfriede Jelinek.

Überwinden und verschluckt werden

Olaf Altmann hat für Michael Thalheimers Inszenierung von Jelineks Flüchtlingsklage einen vieldeutigen Bühnenraum geschaffen, in dem vor allem Jelineks bissiges und assoziatives Sprachkonvolut zur Geltung kommen kann. Ein pechschwarzer nach oben offener Kasten, ein Trichter, Kamin oder Kerker, der sich nach hinten perspektivisch verengt und dessen Ende durch ein bühnenhohes, hell hinterleuchtetes Kreuz markiert ist. Begleitet von monotonem Geigenvibrato quetschen sich aus dem senkrechtem Schlitz die Leiber der Flüchtlinge. Die Kirche der Unbarmherzigen spuckt sie wieder aus - erinnert die Szene nicht auch an den Maschenzaun an den europäischen Grenzen? Im Dunkeln davor ist knöchelhohes Wasser, in das schwarz gekleidete Gestalten fallen. Sie rudern mit den Armen, richten sich auf, fallen, stehen auf und fallen wieder. Ein Kampf gegen das Element, das es zu überwinden gilt und das sie zu verschlucken droht. Am Ende der Szene sind es 16 vor Nässe triefende Gestalten, die immer noch im Wasser frontal zum Publikum verrenkt, gebückt, verbogen Aufstellung genommen haben. Ihre Gesichter sind durch Masken aus bunten Plastiksäcken, wie sie milliardenweise in den Meeren treiben, verhüllt. Hier nun: Treibgut Mensch. Was für ein Bild!

Leise hebt der Text an. Vier-, fünfmal hauchen sie im Chor die Sätze "Wir leben. Wir leben. Hauptsache wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat." Dann ist die Rede vom Unwillkommen-Sein, von Ablehnung, vom Verhindern von Menschenfluten, von Gleichgültigkeit. In der Mitte des 90 Minuten dauernden Stückes versetzt Jelinek der undurchsichtigen österreichischen Einbürgerungspraxis einen Seitenhieb, in dem von Ungerechtigkeit, der Blitzeinbürgerung von Boris Jelzins Tochter oder der von Anna Netrebko indirekt die Rede ist. In ausladender Garderobe schreitet eine bleich geschminkte Sängerin auf die Bühne und singt aus Georg Friedrich Händels Oper "Rinaldo" die Arie "Lascia ch'io pianga" - lass mich mein grausames Schicksal beweinen und seufzen um meine Freiheit!

Auf der großen Bühne des Burgtheaters aber stehen keine echten Flüchtlinge, sondern Schauspieler. Sie ergreifen an Stelle und für die Bürgerkriegs-und Armutsflüchtlinge das Wort. Wer mag, kann darin ein Problem sehen, wenn Staatstheaterschauspieler von und für Flüchtlinge sprechen. Manch einer meint, das sei Missbrauch der Betroffenen, für andere wiederum wirkt die ästhetische Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsproblematik zynisch. Statt der Politisierung des Ästhetischen gerinne solches Theater bloß zur Ästhetisierung des Politischen. Aber sind Flüchtlingstexte wirklich nur mit echten Flüchtlingen zu realisieren? Warum eigentlich? Ist es uns zu nah, zu real?

Verdrängtes sichtbar machen

Anders als Nicolas Stemann anlässlich der Uraufführung der "Schutzbefohlenen" am Hamburger Thalia-Theater stellt sich Michael Thalheimer bei seiner Inszenierung die Fragen, wer für wen sprechen kann, darf oder soll, nicht. Er macht selbstbewusst klar, dass er mehr an politischem Theater interessiert ist, denn an möglicherweise politisch-korrektem Aktivismus. Er umschifft das heikle Gelände der Nicht-Darstellbarkeit der kaum fassbaren Tragödien, die sich an den europäischen Außengrenzen abspielen sowie das der Repräsentation. Er verlässt sich ganz auf die assoziative Wucht des Textes und inszeniert das Stück als großen chorischen Monolog. Nur hin und wieder lösen sich aus dem 16-köpfigen Wir-Chor einzelne Stimmen heraus und erzählen von eigenen Geschichten. Die solcherartige Vermassung des Phänomens Flüchtling erlaubt keine falsche Einfühlung. Dafür sorgt nicht zuletzt auch die künstlerische Sprachartistik der Autorin, die den hohen Ton der antiken Tragödie mit der ihr eigenen Lust an Wortspielen, verbindet, sich dabei aber in so mancher Wendung in (leidlich überflüssigen) Kalauern verirrt.

Die politischen Möglichkeiten des Theaters sind beschränkt. Weder dafür noch für die Schlechtigkeit der Welt kann es verantwortlich gemacht werden. Wichtig am Theater ist, dass es eine Öffentlichkeit stiftet, um sichtbar zu machen, was nur allzu gern verdrängt würde. Oder um es in der Diktion von Jelinek und nahe an Thalheimers Inszenierung zu sagen: das Unerhörte gehört gehört.

Die Schutzbefohlenen

Burgtheater, 23., 27., 29. April

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