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Frustrierte

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„Soweit ich mich erforschen konnte“, schrieb Leo Tolstoi als junger Mensch in sein Tagebuch, „herrschen in mir drei schlimme Leidenschaften vor r die Spielleidenschaft, die Wollust und die Eitelkeit.“ Klare Selbsterkenntnis. Ein Taugenichts, Trunkenbold, Verschwender zu sein, sagt von sich Fedja in dem Drama „Der lebende Leichnam“ von Tolstoi, das seit 36 Jahren im Burgtheater nicht mehr gespielt wurde und nun im Akademietheater zu sehen ist. In der Schonungslosigkeit, die eigenen Fehler zu erkennen, gleicht diese Gestalt dem Autor.

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„Soweit ich mich erforschen konnte“, schrieb Leo Tolstoi als junger Mensch in sein Tagebuch, „herrschen in mir drei schlimme Leidenschaften vor r die Spielleidenschaft, die Wollust und die Eitelkeit.“ Klare Selbsterkenntnis. Ein Taugenichts, Trunkenbold, Verschwender zu sein, sagt von sich Fedja in dem Drama „Der lebende Leichnam“ von Tolstoi, das seit 36 Jahren im Burgtheater nicht mehr gespielt wurde und nun im Akademietheater zu sehen ist. In der Schonungslosigkeit, die eigenen Fehler zu erkennen, gleicht diese Gestalt dem Autor.

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Tolstoi hoffte, wenigstens einigermaßen seine vorherrschenden Leidenschaften zu dämpfen, man weiß, wie schwer ihm dies gelang, Fedja dagegen erklärt immer wieder, es sei ihm unmöglich, sich zu ändern. Behauptet er es leichtfertig? Diesen Eindruck hat man nicht, es scheint tatsächlich seine Kraft zu übersteigen. Nun wird er aber als ein „ganz, ganz ausgezeichneter Mensch“ bezeichnet. Berechtigt? Er gibt seine Frau Lisa frei für eine neue Ehe mit Karenin, obwohl nur die Scham über die Trunkenheit seine Liebe zu ihr abgewürgt hat und beseitigt sich zunächst scheinbar und dann wirklich, um die Ehe zu ermöglichen.

In den heutigen Stücken werden, soweit es sich nicht um reine Unterhaltung handelt, fast nur krasse Negativgestalten vorgeführt, die der Autor anprangert, bei Tolstoi gibt es ebenfalls eine Negativgestalt, die aber im Entscheidenden altruistisch handelt. Haben wir uns schon dermaßen abgefunden mit all den furchtbaren Verbrechen, die sich täglich ereignen, daß wir an das auch mögliche Gute im Menschen nicht mehr glauben? Wagt man kaum noch auszusprechen, daß es das gibt? Fedja greift aber auch an. Die verknöcherte Paragraphenwelt der Justiz befähigt ihn dazu. Wer hat heute Selbsterkenntnis ?

Unter der Regie von Leopold Lindtberg kommt eine vortrefflich ausgeglichene Aufführung zustande. In seiner Einrichtung des Stücks verzichtet er auf zwei „Bilder“, von denen allerdings eines mit der Mutter Karenins als Kontrast zur Mutter Lisas wirksam wäre. Die fragmentarischen Bühnenbilder von Zbynek Kolar ermöglichen rasche Verwandlungen. Klausjürgen Wussow macht, erstaunlich entgegen seinen sonstigen Rollen, die Haltlosigkeit des Fedja voll glaubhaft. Aglaja Schmid ist eine verinnerlichte Lisa, Alma Seidler gibt ihrer Mutter das Nachdrücklich-Heftige einer alten Frau. Wolfgang Gasser als Karenin? Korrektheit allein ist zu wenig. Und bei der Mascha muß man schon die Zigeunerin spüren. Das ist bei Else Ludwig nicht der Fall. Einsatz von insgesamt 41 Darstellern.

★

Die Schwierigkeiten, die den DDR-Dramatikern mit geforderter Partei-ausrichtung bereitet werden, bedingen es, daß sich die besten von ihnen in den Mythenbereich der Antike zurückziehen. So hat Heiner Müller einen „Philoktet“ geschrieben, der in Handlung und Argumentation weitgehend Sophokles folgt. Dieses Stück wurde zwar nicht in der DDR ge-

spielt, hatte aber an bundesdeutschen Großbühnen Erfolg. Bei uns kommt es fünf Jahre später an einer Kleinbühne, bei den „Komödianten“ im Theater am Börseplatz, heraus.

Der „Philoktetes“ des Sophokles ist ein Hohelied der Menschlichkeit. Neoptolemos, der Sohn des Achilleus, läßt sich von Odysseus zu einem Betrug an dem auf einsamer Insel ausgesetzten Griechen Philoktetes, der die griechischen Heerführer berechtigt haßt, überreden, damit der Krieg in Troja gewonnen werden kann, enthüllt aber bereuend seine lügnerische Machenschaften, worauf Herakles als Deus ex machina alles zum Guten wendet. Es geht wider den Einsatz verwerflicher Mittel. Götter sind einem DDR-Autor odios, der Mensch gilt da als autonom, daher wurde von Heiner Müller der metaphysische Bereich aus der Sophokle-ischen Fabel beseitigt. Bei ihm tötet Neoptolemos den Philoktet, da sein Haß auf die Griechen unbesiegbar ist und alles zerstören würde. Hier werden verbrecherische Mittel dargestellt, der Mensch erweist sich als des Menschen Wolf. Kritische Stellungnahme? Heiner Müller muß vorsichtig sein.

Die viel gelobte Sprache Müllers ist zweifellos dichterisch inspiriert, wirkt aber dermaßen sperrig, verschraubt, daß sie das Verstehen auf der Bühne streckenweise unmöglich macht. Die Schauspieler fühlen sich durch sie von den Situationen

„abigelenkt“, beherrschen sie aber schließlich doch. Bei der Urauffüh-ung im Münchner Residenztheater wurde das Stück als Clownspiel vorgeführt. Hier gibt es unter der Regie von Walter Pfaff berechtigt nur am Beginn und am Ende einen clownes-ken Umzug mit Musikinstrumenten. Der Bühnenbildner Gerhard Jax kleidete die Darsteller in schmutzigrosafarbene Overalls, gab ihnen Halbmasken, ordnete eine Kiste als Felsenhöhle an und für den Schluß eine schräge Pultfläche und ein Seilnetz darüber, auf denen Michael Rastl als Philoktet, Dieter Hofinger als Odysseus, Erhard Pauer als Neoptolemos in erstaunlicher Behendigkeit ihre Kämpfe darbieten. Eine verdienstvolle Aufführung.

Durch die Sexwelle entsteht die Auffassung, daß es in diesem Bereich keine Hemmungen mehr gibt. Die heutigen Bühnenwerke scheinen dies zu bestätigen. Das gilt aber keineswegs allgemein. In dem Vierpersonen-Stück „Armer Teufel Theodor“ des holländischen Schauspielers Eric Schneider, das derzeit im Kleinen Theater im Konzerthaus aufgeführt wird, gibt es drei in gemeinsamem Haushalt lebende ältere Jungfern, Schwestern, die über Hemmungen oder über das besondere Pech mit einem Mannsbild nicht hinwegfanden und sich nun, bedingt durch ihre Unbefriedigtheit, fast auffressen. Die sexuellen Voraussetzungen für dieses Zustandsbild brodelnder Gier und Hysterie sind allerdings geradezu läppisch, die Schlußwendung wirkt als Mache, aber die drei Frauen sind vorzüglich gezeichnet. Da gelangen einem Schauspieler als Autor wirksame Rollen. Das wird unter der Regie von Hermann Kutscher, der sich auch als Bühnenbildner bewährt, genützt. Vor allem bietet Ursula Schult eine (großartige Leistung als verklemmtes, huscheliges Hauswesen, das zum Putzlappen flüchtete. Aber auch Grete Zimmer, macht das Aggressive einer Alternden glaubhaft, in der aus Enttäuschung eine lesbische Neigung entstand.

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