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Der Mann, der MERZ machte

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„Kurt Schwitters literarisches OEuvre, zu gut einem Drittel veröffentlicht, befindet sich zu einem Sechstel in kleinen Heften mit oft niedriger Auflage und antiquarisch hohem Wert. Anderes steht verstreut in seltenen Avantgarde-Zeitschriften und in vergilbten Zeitungen der zwanziger Jahre. Und in neueren Anthologien? ,An Anna Blume*, ab und zu Theorien zur MERZ-Bühne, das war’s!“ Das notiert Friedhelm L a c h in seinem Vorwort der Nummer 23 von Hubert F. Kulterers Zeitschrift „Eröffnungen“ (sie erscheint voraussichtlich Ende Juli 1971) über das literarische Vermächtnis des prominenten Dadaisten, Experimentators und Vorbildes der Avantgarde der Gegenwart.

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„Kurt Schwitters literarisches OEuvre, zu gut einem Drittel veröffentlicht, befindet sich zu einem Sechstel in kleinen Heften mit oft niedriger Auflage und antiquarisch hohem Wert. Anderes steht verstreut in seltenen Avantgarde-Zeitschriften und in vergilbten Zeitungen der zwanziger Jahre. Und in neueren Anthologien? ,An Anna Blume*, ab und zu Theorien zur MERZ-Bühne, das war’s!“ Das notiert Friedhelm L a c h in seinem Vorwort der Nummer 23 von Hubert F. Kulterers Zeitschrift „Eröffnungen“ (sie erscheint voraussichtlich Ende Juli 1971) über das literarische Vermächtnis des prominenten Dadaisten, Experimentators und Vorbildes der Avantgarde der Gegenwart.

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Friedhelm Lach ist auch der Autor der eben herausgekommenen Schwitters-Monographie (seine Dichtungen betreffend) In der Reihe „DuMont-Dokumente“, einem mustergültigen Band, der quasi als Vorstudie auf die vierbändige Gesamtausgabe der Werke des MERZ-Künstlers aufmerksam macht. „Eröffnungen“ und DuMont-Dokumente, dazu die bereits 1967 ebenfalls bei DuMont erschienene Monographie des Kunsttheoretikers Werner Schma- lenbach über den bildenden Künstler Schwitters! Es ist keine Frage mehr: Der Mythos Schwitters kommt erst jetzt zum Tragen. Die Aktualität des Experimentators wird heute mehr denn ja spürbar. Und zwar überall da, wo man neues Theater macht, konkrete Poesie schreibt, an musikalischen und sprachlichen Experimenten arbeitet. Schwitters kühne Phantasie, in formal perfekte Arbeiten gebannt (die heute im Osloer Schwitters-Archiv gesammelt sind), wird 25 Jahre nach seinem Tod erst wirklich erkannt.

Sein künstlerisches Bekenntnis gibt Aufschluß: „Mein Ziel ist das MERZ-Gesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.“

Dieses Verwischen der Grenzübergänge, das ist es, was Schwitters Werk heute aktuell macht. Der MERZ-Künstler arbeitete in seinen Bildgedichten und Lautgedichten, Zahlengedichten und Buchstabengedichten optisch und akustisch. Er entwarf die typographische Gestaltung meist selbst: „Für den Druck der Ursonate gab er Jan Tschichold typographische Anweisungen. Die Ohrenzeugen bei den MERZ- Abenden berichten übereinstimmend, was auch die theoretischen Schriften bestätigen: die rhythmische Gestaltung stand im Vordergrund. Bildrhythmus, Musikrhythmus und Sprachrhythmus waren für ihn verwandte, übertragbare Phänomene. Schwitters hat recht gehabt, wenn er in eines seiner frühen Pop-Bilder schrieb: .Amerika ist angenehm berührt!* 1925 schnitt er von einer Reproduktion der Sixtinischen Madonna den Kopf weg und ersetzte ihn durch den gezeichneten Kopf eines Mannequins, fügte einen Ausschnitt von einem Pferd dazu, klebte eine Maschinenteildarstellung und einen 3-Pfennig- Zettel hinein und schrieb einen Satz ins Bild … Objektpoesie, die Pop vorbereitete!“ (F. Lach.)

In seinem erzählerischen (Euvre ist er ein besonders amüsanter, mit dem Grotesken spielender Autor, der in seinem Humor Moral verpackt, die kleinen Schwächen des Menschen karikiert oder auch einfach die Unruhe und Angst des Menschen verspottet. Vor allem in den Kurzgeschichten von 1926 und 1927 verspottet er die Bürger, die unter Halluzinationen leiden, vor allem die eingebildeten Kranken und Selstmordkandidaten und die Besessenen, die wähnen, etwas Schreckliches begangen zu haben, verzaubert zu sein oder irgendwelche Rekorde brechen zu müssen … Zur Kurzgeschichte „Mein Selbstmord“ notiert Friedhelm Lach in seiner DuMont-Mono- graphie: „Schwitters macht sich hier wohl über seine frühere Melancholie lustig. Die Freundin hat dem Icherzähler der Geschichte den Laufpaß gegeben, und nun probiert er alle Möglichkeiten des Selbstmordes aus: Tropfen, Pillen, Gift, Ertrinken. Nichts gelingt, weil er dm Grunde seines Herzens leben will. Als er endlich auf der Suche nach dem rechten idyllischen Ort für seinen Selbstmord am Flußufer entlangwandert, trifft er seinen Nebenbuhler Fritze Buhmann, der desselben Mädchens wegen ebenfalls Selbstmord begehen will. In dem Augenblick kommt die Angebetete Annemarie und wirft sich in die Arme unseres Icherzählers. Der ist von allen Selbstmordgedanken befreit, heiratet nach acht Tagen, hat nach vierzehn Tagen ein Kind, nach vier Wochen fünf, nach einem Jahr 59 Kinder. Damit ist seine Ehe — so stellt er fest — schlimmer als ein Selbstmord.“

Was ist Schwitters’ Trick bei all seinen dichterischen Werken?

„Steigst Du aus, merk Dir den Kniff — Linke Hand am linken Griff“, dichtete er für die Hannoversche Straßenbahn. Die treffsichere Banalität des Tonfalls machten diesen und andere seiner Werbesprüche rasch populär. Das berühmt-berüchtigte Gedicht „An Anna Blume“ fand in den Kreisen der künstlerischen Avantgarde um 1920 und weit darüber hinaus überraschenden Widerhall, weil es von der Sprache und dem Geist des „kleinen Mannes“ lebte und zugleich eben diese Sprache und eben diesen Geist persiflierte. Noch heute sind manche der zuerst in Herwarth Waldens „Sturm“ oder in Schwitters eigener Zeitschrift „MERZ“ erschienenen MERZ-Dichtungen besonders aktuell, in denen Fragmente und „Abfälle“ aller Art poetischphantastische Tiefsinnigkeit erhalten. Schwitters bedeutendstes Prosawerk, der etwa 40 Seiten starke Roman „Auguste Bolte“ (mehrmals nachgedruckt), die Lautgedichte „Ursonate“ (1921), „Stottergedicht“ und „Niesskerzo“ (beide 1930) werden heute noch bewundert. Nach Lachs DuMont- Band, den literarischen Kostproben in Kulterers demnächst herauskommenden „Eröffnungen“ und kurzen Einblicken in Manuskriptbestände aus dem Nachlaß weiß man, daß der Dichter Schwitters dem prominenten

Künstler nicht nachsteht. Die DuMont-Gesamtausgabe wird das deutlich belegen.

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