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Der Stil der unteilbaren Nenner

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PROSA, BRIEFE, VERSE. Von Gustav Siok. Vorwort von Dieter Hoffmann. Verlag Albert Langen-Georg Müller, München-Wien. 675 Seiten. Preis 26.50 DM. — EXPRESSIONISMUS — GROTESK. Herausgegeben von Karl 011 e n. Mit Zeichnungen, erschienen im Verlag der Arche Zürich. 107 Seiten. Preis 9.80 DM. — KURT SCHWITTERS. Erinnerungen aus den Jahren 1918 bis 1930. Von Kate T. S t e 1 n i t z. Mit Photos, Zeichnungen, Faksimiles. Im Verlag der Arche, Zürich. 168 Seiten. Preis 11.80 sFr. — GESAMMELTE GEDICHTE. Von Hugo Ball. Herausgegeben von Annemarie Schutt-Hennings. Mit Photos und Faksimiles erschienen im Verlag der Arche, Zürich. 133 Seiten. Preis 9.80 sFr.

Der literarische Expressionismus ist die einzige originär deutsche Stilfindung und ist bezeichnenderweise bis heute undefinierbar geblieben. Nur zweimal zeigte sich das, was wir heute ziemlich allgemein als literarischen Expressionismus zu bezeichnen pflegen, als eine Art Einheit: künstlerisch in der von Kurt Pinthus 1919 herausgegebenen Lyriksammlung „Menschheitsdämmerung“ und literaturgeschichtlich 1960 bei der Expressionismusausstellung im Schiller-National-Museum in Marbach. Das umfangreiche Material dieser Ausstellung gab Zeugnis von den unteilbaren Nennern, die man sich nichtsdestoweniger doch angewöhnt hat, ober dem Strich mit dem Etikett „expressionistisch“ zu versehen.

Die Erweckung ist, soweit man das heute beurteilen kann, im wesentlichen gescheitert. Am stärksten in der Dramatik, am geringsten in der Lyrik, denn hier triumphiert bei einigen wenigen Autoren das erreichte Kunstwerk über die Stiltendenzen. All das aber, was prononciert die verschiedenfäl-tigen Kriterien des Expressionismus trägt, lesen wir heute nicht als Dichtung, sondern als Zeitdukoment. Das kommt einem Urteil gleich. Dennoch ist die Neuauflage von Texten, die wie ein Großteil ihrer Autoren praktisch kaum mehr zugänglich, weil verschollen sind, ein Gewinn für die Literatur- und Geistesgeschichte und durchaus zu begrüßen. ^

Gustav Sack, 1885 am Niederrhein geboren, 1916 bei Bukarest gefallen, rangiert gegenwärtig in der literarischen Wertung (Hohoff, Otten) vor allem als Stilist und Sprachformer sehr hoch. Ohne Zweifel zu Recht. Sack ist ein exakter, sachkundiger Beobachter, der auch dem Rauschhaften gerecht wird, ohne unlogisch, unbildlich und formlos zu werden. Seine Prosa bedeutete echtes Neuland, ist heute noch bezwingend in ihrer Intensität, rhythmisch, brodelnd, gespeist von einer kalten Wut des Intellekts und der Empfindung. Schlägt diese Intensität jedoch in Sehnsucht um, zeichnet sie die Arabesken des Jugendstils nach und erinnert an Beardsley. Stilkritisch schon läßt sich bei Sack erkennen, daß in ihm die Titanie eines Nietzsche mit der Sentimentalität deutscher Burschenherrlichkeit ringt, die byroneske Romantizismen gleich dem Faltenwurf einer Toga um sich drapiert. Sacks Werk, erst nach seinem Tod gedruckt und sehr rasch, aber nicht überraschend zu Wirkung und Popularität gekommen, ist durchwegs autobiographisch. Und wie bei so vielen Expressionisten, sind die Themen der Erlebnis- und Darstellungswelt nur gering: Not, Brot und Brunst. In zwei Romanen, „Ein verbummelter Student“ und „Ein Namenloser“ gibt er Zeugnis für den Aufruhr und den Aufbruch seines Willens, der keine Zielsetzung kennt; der Stachel des Intellekts ist die treibende Kraft. Von ihm sucht er Erlösung, im Tier, als das er den Arbeitsmenschen sieht, und im Mädchen als reinem Sexualwesen. Beide Versuche scheitern und enden im Selbstmord. Die Thematik der Erzählungen, darunter subtil ausgefeilte Prosastücke, und der Gedichte, die aber frontal mit Expressionismus nichts zu tun haben, ist ähnlich.

Wie verhängnisvoll die Geistigkeit des Expressionismus dem Ausgangspunkt und der geistigen Situation des Nationalsozialismus entsprochen hat, ist mehrmals festgestellt worden (daß später die Spießer die Oberhand behielten, ist ein anderes). Sack liefert hiezu erschreckende Beweise. Seine Ausgangsposition ist zunächst einmal sein Anderssein, womit er sich automatisch gegen die Normen und das soziale Gefüge seiner Umwelt stellt. „Sollte vielleicht das, was ich meine blaue Sehnsucht nenne, die versteckte Wut nach lautem Leben sein? Soll erst dann meine Willenskraft aufwachen, wenn ihm etwas Gewaltiges entgegentritt, und nicht dieser elende Mikrokrims-krams von Bücherstaub und Tiftelei — Kampf und Krieg, ein lohendes Glück, ein mich niederschmetterndes, buchstäblich mit Füßen tretendes Leid: brausendes, riesenfäustiges Leben?“

Der Intellekt ekelt Sack an, und er setzt die Stadt als Äquivalent dazu. „Lieber verbauert als vergeistigt“ — nach Dieter Hoffmann (im Vorwort) als Vorläufer totalitärer Gedanken oft mißdeutet, in Wirklichkeit verzweifelte Sehnsucht zum Kreatür-

lichen. Aber was Sack unter Sehnsucht versteht, haben wir oben schon zitiert; sie endet bei der Gewalt!

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Jene zwei Dutzend Dichter, die Karl Otten in „Expressionismus — grotesk“ in Vers und Form zu Wort kommen läßt, wären von Sack als Literatenclique schärfstens verurteilt worden. Dabei schufen sie ihr Werk genau wie er das seine als Protest gegen die Zeit, aber von Skepsis, Verspieltheit, Humor und Absurdität getragen. Ihnen ist der Intellekt kein Stachel, sondern eine Verführung — zu Kapriolen, die aber keineswegs der Wirklichkeit fernstehen müssen. Die Welt des Grotesken als Mittel der Satire ist uns fast schon zu einer Norm geworden. Und wir empfinden sie ohne Schock und eher sympathisch, da wir die Welt des Titanischen, mit anderen Mitteln arbeitend, abschreckender erlebt haben. Die Einführung durch Karl Otten ist grundlegend.

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Unter den Grotesken fehlt natürlich nicht Kurt Schwitters, der Zeichenlehrer, Maler, Bildhauer und Dichter; der Schöpfer der Anna Blume. Und Schwitters der Kollagen-Kleber, der Merzer und Merz-Baumeister, der Typograph, der Dichter, vor allem aber den Mensch tritt uns in den Erinnerungen von Kate Steinitz entgegen. Und obwohl die Autorin, die lange Jahre der Freundschaft und des gemeinsamen Schaffens mit dem Künstler in Hannover verbracht hat, sehr viel von sich selbst erzählt, kommt Schwitters nicht zu kurz. Denn die lebendige Atmosphäre, in der er seine Form des Dadaismus prägte, die Lebenshaltung, aus der diese verspielte Form des zweckentfremdeten (aber irgendwie auch totalen!) Ästhetizismus wuchs, kommt unmittelbar und plastisch zur Darstellung. Schwitters gehört zu den liebens-

wertesten und fröhlichsten Revolutionären. Eine überaus seltene Mischung.

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„Intensität und Radikalismus' des Gefühls“ nannte Kurt Pinthus 1919 die gemeinsame Komponente seiner Sammlung expressionistischer Lyrik. Die Wandlung dieser typisch expressionistischen Intensität zu gläubiger Askese verkörpert Hugo Ball. Mit Lautgedichten hat er 1916 in Zürich den Begriff Dadaismus geprägt. Über das „Byzantinische Christentum“ (1923) fand er zur christlichen Askese. Seine „Gesammelten Gedichte“ dokumentieren diesen Weg seiner Wandlung. Kaum ein anderer Expressionist hat auch formal in der Lyrik solche Bereiche durchschritten wie er. Dabei ist Balls Anliegen nicht so sehr die Form als der Ge-

halt. Historisch gesehen ist sein Weg bedeutsamer als sein Werk. Erinnerungen von Freunden und Weggenossen, Arp, Hardekopf, Hesse (dessen Biograph er war), Huelsenbeck und Richter, lassen trotz ihrer Kürze etwas vom Geheimnis dieser Persönlichkeit und ihrer allmählichen Ausprägung ahnen. Von Richard Huelsenbeck wurde Balls Bekenntnis aufgezeichnet: „Was wir alle wollten, war nicht Dadaismus. Der Dadaismus war nur eine Beigabe einer großen Frömmigkeit. Wir litten nicht an der Zeit, sondern wir litten hauptsächlich an uns selbst. — Ich selbst habe nichts getan, in meinem ganzen Leben, als an Gott geglaubt, indem ich mit dem Teufel gerungen habe. Der Dadaismus war für mich nicht mehr und nicht weniger als die höllische Messe, durch die ich gehen mußte, um zu Gott zu kommen...“

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