6866509-1978_05_14.jpg
Digital In Arbeit

Der Mann zu jeder Jahreszeit-ein Mann voll von Paradoxen

19451960198020002020

Auf den 7. Februar fällt der 500. Geburtstag des Gelehrten, Humanisten, Staatsmannes und schließlich Märtyrers Thomas Morus, der dem dynastischen Ehrgeiz seines vormaligen Freundes und Patrones, König Heinrichs VIII., zum Opfer fiel. In den USA und in England haben Historiker das Jubiläum zum Anlaß genommen, mit neuen Forschungsergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Besonders die Thesen des englischen Historikers G. R. Elton haben in wissenschaftlichen Kreisen viel Staub aufgewirbelt.

19451960198020002020

Auf den 7. Februar fällt der 500. Geburtstag des Gelehrten, Humanisten, Staatsmannes und schließlich Märtyrers Thomas Morus, der dem dynastischen Ehrgeiz seines vormaligen Freundes und Patrones, König Heinrichs VIII., zum Opfer fiel. In den USA und in England haben Historiker das Jubiläum zum Anlaß genommen, mit neuen Forschungsergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Besonders die Thesen des englischen Historikers G. R. Elton haben in wissenschaftlichen Kreisen viel Staub aufgewirbelt.

Werbung
Werbung
Werbung

Morus stammte aus einer vornehmen Londoner Bürgerfamilie. Sein Vater, ein angesehenes Mitglied des Parlaments, schuf sich einen guten Ruf als Richter. Von seinem Sohn Thomas wurde erwartet, daß er in die Fußstapfen seines Vaters treten würde.

Thomas Morus promovierte am St. . Magdalen College in Oxford, wo sich seine ungewöhnliche Begabung in den neuen klassischen Studien schon früh herausstellte. Zunächst erfüllte er den Wunsch seines Vaters und promovierte auch an der „Inns of Court“, einer berühmten Londoner Rechtsschule. Der Abschluß des Richterexamens war schließlich die erste Sprosse auf der Karriereleiter, die Morus noch zu weltweitem Ruhm führen sollte. Unmittelbar nach der Veröffentlichung seines Werkes „Utopia“, trat er in den Dienst des jungen Königs Heinrichs VIII. ein, bewies dort seine Fähigkeiten als Redner, Diplomat, Verwalter und Advokat, bis ihm schließlich nach dem Sturz des großen Kardinals Thomas Wolsey auf Geheiß des Königs das Amt des Lordkahzlers übertragen wurde (1529).

Die Nachricht von der Bestellung Morus' zum Lordkanzler löste auf dem europäischen Kontinent großes Aufsehen aus. Der neue Lordkanzler war ein Freund der Königin Katherina und wurde schon deshalb als Opponent gegen die bevorstehende Scheidung zwischen ihr und König Heinrich VIII. angesehen. Kardinal Wolsey war zuvor aus seinem Amt entlassen worden, weil er in Rom diese Scheidung nicht hatte durchsetzen können. Außerdem genoß Morus auf dem Kontinent schon hohes Ansehen, allerdings nicht als Politiker, sondern als maßgeblicher Humanist, den Erasmus von Rotterdam als Vorbild des christlichen Laien hingestellt hatte und dessen streitlustige Bücher gegen Luther viel Beachtung fanden.

Morus' Karriere als Humanist begann in Oxford, wo der große Theologe John Colet großen Einfluß auf ihn ausübte. Morus wäre aber möglicherweise eine provinzielle Figur geblieben, hätte er nicht die schicksalhafte Begegnung mit Erasmus gehabt. Die beiden Gelehrten waren voneinander hingerissen, ihr enges und freundschaftliches Verhältnis war sowohl für die Karriere des Morus als auch des Erasmus von großer Bedeutung: Thomas profitierte von Erasmus' seriöser und umfassender humanistischer Bildung, Erasmus hingegen fand sieh selbst von seiner bisher eher oberflächlichen Beschäftigung mit dem heidnischen Klassizismus abgelenkt. Nachdem Erasmus aus England zurückgekehrt war, wandte er sich seinem Programm „ad fontes“ zu- der Rückkehr des Christentums zu den ursprünglichen Quellen. Dieses Projekt fand mit Erasmus' Ubersetzung des neuen Testamentes vom Griechischen ins Latein (1515) und Morus' „Utopia“ (1516) seinen Höhepunkt. Von diesem Zeitpunkt an waren die beiden Waffenbrüder.

Ursprünglich wurde auf dem Kontinent angenommen, daß Morus und nicht Heinrich VIII. die Streitschrift „Assertio Septem Sacramentorum“ gegen Luther verfaßt hatte. 1522 schrieb Morus jedoch selbst eine Kampfschrift gegen Luther. Sie zeigte den großen Humanisten plötzlich als messerscharfen Polemiker, der Luther mit seinen eigenen Waffen bekämpfte. Sechs Jahre später erhielt er vom Bischof von London die Erlaubnis, ketzerische Bücher zu lesen. Morus schrieb in den nächsten Jahren zahlreiche Werke, in denen er Traktate von im Exil lebenden englischen Ketzern schärftens bekämpfte.

Nach dem Tode des Morus bemerkte Erasmus zu diesem Kapitel im Schaffen .des großen Gelehrten: „Wäre es Gottes Willen, hätte er diese Bücher die Theologen schreiben lassen.“ Aber Erasmus irrte. So gehässig diese Werke auch geschrieben waren, Morus war durch die intensive Beschäftigung mit reügiösen Streitfragen selbst zum Theologen geworden.

Kein Zweifel, daß Morus heute zu den populärsten „Laien-Heiligen“ der katholischen Kirche zählt. Seine persönliche Anziehungskraft sprengt jedoch nach wie vor die Grenzen des Katholizismus. Der bekannteste Biograph von Thomas Morus im 20. Jahrhundert, R. W. Chamber war kein Katholik, auch nicht J.H.Hexter, der Herausgeber von „Utopia“ und genausowenig Robert Bolt, der Autor des Stückes und Drehbuches „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“. Daß Morus Anerkennung über die katholische Welt hinaus gefunden hat, wird darauf zurückgeführt, daß er Charakter und Schaffen in einen idealen Einklang gebracht hat.

Der Morus-Experte, Professor J. J. Scarisbrick, meint: „Wir wissen heute mehr über Morus, als über jeden anderen früheren nichtköniglichen englischen Laien. Vielleicht wissen wir mehr über ihn, als über jeden früheren Engländer überhaupt.“ Nicht nur die offiziellen Dokumente werfen ein Licht auf seine Persönlichkeit, auch Erasmus' glänzende Vignetten, die Biographie seines Schwiegersohnes William Rope und die prächtigen Skizzen und Porträts von Hans Holbein.

Dennoch bleibt sein Leben und seine Karriere voll von Verwirrungen und Unklarheiten, die Historiker und Hagiographen bis jetzt nicht erklären konnten. Nicht zuletzt sind es die verschiedenartigen Talente, die der Kontroverse um Thomas Morus immer wieder neuen Zündstoff geben. Morus besaß so vielseitige Begabungen, die gleichzeitig so entgegengesetzt waren, daß sie sein Persönlichkeitsbild auseinanderzubrechen schienen. „Der Mann zu jeder Jahreszeit“ war auch ein Mann voll von Paradoxen: unbestechlicher Advokat und Richter; theoretisierender Philosoph und praktischer Politiker; Höfling und gewissenhafter Bürger; eleganter Latinist und scharfer Polemiker; zweimal verheirateter Familienvater, der sich zum strengsten der besinnlichen Orden hingezogen fühlte; großer Humanist und schroffer Ankläger; schließlich Spaßvogel und Märtyrer zugleich.

Die Zweideutigkeiten verlieren sich in den letzten Monaten seines Lebens, nachdem er bereits des Hochverrats überführt war und er in einer leidenschaftlichen Rede die Gewissensfreiheit verteidigte. Danach schwieg der streitlustige Polemiker, wurde zum Märtyrer, der sich auf den Tod vorbereitete.

Nur wenige verneinen Morus' morausche Größe während dieses letzten Jahres, als er im Kerker trotz allen Schmeicheleien und Drohungen an der Uberzeugung festhielt, daß sich England - welches Gesetz auch immer im Parlament durchgedrückt würde -nicht aus der Einheit der Christenheit lösen dürfe.

Streitpunkt bleibt aber weiterhin Morus' Schaffen vor seiner Verurteilung. Er hatte nicht nur unzählige Bewunderer auf seiner Seite, sondern auch eine Vielzahl von Gegnern und Verleumdern. Der Chronist Eduard Hall etwa, ein Zeitgenosse Morus', war durch dessen Witz zutiefst verletzt worden.

Vor seiner Enthauptung schob Morus den Bart an die Seite des Henkerblocks und bemerkte scherzend: „Verschonen sie den, der beging keinerlei Hochverrat.“

Am Schafott protestierte er gegen seine Verurteüung mit den Worten: „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, vor allem aber als treuer Diener Gottes.“

Für Hall und den größten lebenden Tudor-Historiker G. R. Elton ist diese Feststellung von Morus am Richtplatz bedeutungslos. Eltons eigenwillige Interpretation von Cromwells Karriere-des Anklägers und Nachfolgers des Morus, die Cromwell als einen der ersten großen Staatskonstrukteure erscheinen läßt, wirft auch ein eigenartiges Licht auf Morus: Dieser sei die letzte wichtige mittelalterliche Gestalt Englands gewesen, ein „reaktionäres Bollwerk eines überholten theo kratischen Dualismus.“ Elton verweist dabei vor allem auf die Widersprüche in Morus' Lebenswerk.

Elton findet auch Morus' Jahre als Lordkanzler nicht besonders eindrucksvoll. Die drei Jahre seiner Kanzlerschaft bezeichnet er als Jahre ohne Politik, in denen das Staatsschiff ruderlos in den Strudel der Reformation getrieben worden sei.

Morus kann dafür aber nicht verantwortlich gemacht werden. Seine Politik war nicht die des Königs: Heinrich hatte sich entschlossen, sich von Katherina scheiden zu lassen, auch wenn dies den Bruch mit Rom zur Folge haben sollte. Morus, der die erste Heirat unterstützt hatte, und immer für die Einheit der Christenheit eingetreten war, nahm nicht zuletzt deswegen das Amt des Lordkanzlers an, um gegen diese Politik des Königs opponieren zu können. Als Heinrich im Mai 1532 die Unterwerfung des englischen Klerus unter seinen Willen vorantrieb, war es offensichtlich, daß ein Bruch mit Rom unvermeidlich geworden war. Morus legte in den folgenden Tagen sein Amt auch nieder.

Um seine Kritik zu untermauern, führt Elton zwei wichtige Punkte an: Während seiner Kanzlerschaft sei Morus nicht mehr der Liberale gewesen, der „Utopia“ verfaßt habe. Vier Protestanten seien in seiner Amtszeit als Ketzer verbrannt worden, während in der Amtszeit des orthodoxen Klerikers Wolsey, die viermal so lange dauerte, nicht ein einziger Ketzer sterben mußte. Daß Morus Ketzer verurteüte, behaupteten schon zeitgenössische Protestanten; eine weitere Feststellung Elton's ist jedoch neu: Morus seien viele Sympathien entgegengebracht worden, weil Heinrich ihm seine eigene Meinung zur Scheidungsfrage zugestanden hatte und Morus sich aus der Affäre gezogen habe, indem er jede persönliche Aussage dazu vermied. Das stimmt. Als er im Parlament nach seiner Meinung zur Scheidung gefragt wurde, meinte er nur, der König kenne seinen Standpunkt in dieser Frage gut genug.

Seine Ankläger hatten dadurch nicht allzuviel Beweismaterial gegen Morus, sie brachten ihn aber trotzdem vor Gericht, denn bei den eingeschüchterten Geschworenen war der Ausgang des Prozesses sowieso schon vorherbestimmt. Elton bringt nun das Geständnis eines Parlamentsmitgliedes in die Diskussion, der Jahre nach der Hinrichtung behauptet hatte, Morus sei der Führer einer Opposition im Parlament gewesen, selbst noch als er Lordkanzler war. Vorsichtig wie immer habe Morus Oppositionelle um sich versammelt, die gegen die Scheidung und die Angriffe gegen die Kirche eingetreten seien. Daraus schließt Elton, daß es von Morus (und anderen) unrealistisch war, sich vom König und von Cromwell Gnade zu erhoffen, schließlich hätten sie Morus' politische Position gekannt.

Obwohl Elton sehr vorsichtig und selektiv an der historischen Gestalt des Thomas Morus gekratzt hat, löste das doch zum Teil heftige Reaktionen bei den orthodoxen Interpreten des Heiligen aus. Diese bezweifelten vor allem Eltons These vom Oppositionsführer Morus, die nur auf einer dürftigen Zeugenaussage aufgebaut sei. Wenn Morus der Oppositionsführer im Parlament war, wieso hatte die Regierung nicht schon vor dem Prozeß und der Hinrichtung genügend Beweismaterial dafür gesammelt?

Auf einem Morus-Symposium an der Fortham-University New York versuchte der schon erwähnte Professor J. J. Scarisbrick die Vorwürfe Eltons gegen Morus zu widerlegen. Scarisbrick führte an, daß Morus nichts anderes als Wolseys Vertrauensmann beim König während der Jahre 1521 bis 1528 war. Morus gab sich dafür her, meinte Scarisbrick, da er sich von Wolsey eine Kirchenreform erhoffte. Mit der Zeit sei Morus jedoch ungeduldiger geworden; das erkläre auch seinen Angriff gegen den gestürzten Kardinal, als er dessen Platz als Lordkanzler eingenommen hatte. Scarisbrick argumentiert weiter, daß Morus das hohe Amt nicht nur deshalb angenommen hatte, weil er hoffte, in dieser Position die Angriffe gegen die Kirche verhindern und die Kirchenreform durchführen zu können, sondern die Kirche auch gegen antiklerikale Kritik unverwundbar machen wollte. Scarisbrick will mit diesen Argumenten beweisen, daß es keinen Bruch zwischen dem früheren liberalen und reformerischen Morus von „Utopia“ und dem angeblich reaktionären Kanzler Morus gibt. Morus sei sein ganzes Leben hindurch ein Reformer gebheben.

Man kann sicher sein, daß die Kontroverse in England und in den USA nicht abflauen wird. Welcher Platz Morus auch immer in der Geschichte eingeräumt wird, „der Mann zu jeder Jahreszeit“ ist heute nicht weniger umstritten, als er es zu seinen Lebzeiten war.

(Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung: Burkhard Bischof)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung