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Keine Pfade aus Utopia

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Norbert Leser hat den Justizmord an Thomas Morus vor 450 Jahren zum Anlaß genommen, diese unvergleichliche Persönlichkeit in Erinnerung zu rufen, als einen Heiligen auch für die Gegenwart zu porträtieren.

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Norbert Leser hat den Justizmord an Thomas Morus vor 450 Jahren zum Anlaß genommen, diese unvergleichliche Persönlichkeit in Erinnerung zu rufen, als einen Heiligen auch für die Gegenwart zu porträtieren.

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Leser hat die Staatsutopie des 38jährigen Morus De optimo re publicae statu sive de nova insula Utopia, von 1516 in hellem Licht gewürdigt, dabei aber offen gelassen, ob diese — in der Nachfolge von Piatons Politeia — aufgebaute Staatskonstruktion verborgen Absichten und Ansichten des Verfassers darlege oder nur eine Ausmalung phantastischer Zustände ohne Realitätsbezug sei.

Uber diese in der überreichen Morus-Literatur immer noch offene Frage möchte Leser hinausgelangen, indem er die zeitkritischen Partien der Inselschilderung als solche ernst nimmt, wie er auch Morus' von Welt- und Menschenkenntnis geprägte ironischdistanzierte Haltung anerkennt.

Heute wissen wir, daß die positiven Staatsutopien ganz und gar nicht harmlos sind — nicht etwa bloß ihrer damaligen Zeitkritik wegen. Sie haben sich als unvergleichlich wirksamer, gefährlicher und verderblicher erwiesen als die Schreckensutopien unseres Jahrhunderts.

Charakteristisch für die wohlmeinende Inhumanität der positiv zu verstehenden Gesellschaftsprojekte — die nicht auf eine esoterische Minorität zielen, sondern auf die Menschheitsganzheit! —, ist, erstrebenswerte Zustände, der Gerechtigkeit, der Wohlfahrt usw., zu kombinieren, ohne zu beachten, daß ihre Realisierung einander beeinträchtigende und gegenteilige Wirkungen hervorbringt.

Die Immunität solcher Projekte gegenüber den empirischen Fehlschlägen — es gibt keine anderen Erfahrungen — besteht bekanntlich darin, daß die Versuche bislang (hinterher stets) am falschen Ort zur falschen Zeit von ungeeigneten Leuten unternommen worden seien. Die Opfer darf man vergessen.

Der doch wohl wesentlichste Punkt: Der Idealzustand setzt durchgehend ideale Bürger, jung und alt, voraus. Ihre Vollkommenheit hat Vervollkommnung zur Voraussetzung, diese wird unbekümmert als möglich erachtet oder — um des löblichen Zweckes willen — zwangsweise herbeigeführt.

Nicht Freiheit, also Selbstverantwortung, wird angestrebt, sondern ordenshafte Brüderlichkeit, die durch Gleichheit durchzusetzen ist und garantiert sein soll. Privatheit darf es nicht geben.

Hierin liegt das Eingeständnis der Schwachstelle der Utopie, aber auch die vorgebliche Rechtfertigung ihrer Gewaltsamkeit, der Nötigung zum (kollektiven) Glück. Der illusionäre permanente Ausnahmezustand weniger soll zur Norm aller werden.

Das andere Charakteristikum solch kaum verkappter Totalitätsunternehmungen ist die Intention, die Übel der Welt aus einem Punkt zu kurieren. Der archimedische Punkt des Morus und nicht weniger seiner Nachfahren ins Nirgendwo: die Abschaffung des Privateigentums.

Morus bringt den Appell umsichtig, sein eigenes irdisches Heil

Seine Bedenken hat Kurt Marko gegenüber Gesell- * schaftsutopien, wie sie Thomas Morus auch vertreten hat. Im folgenden die Überlegungen zu einem Beitrag Norbert Lesers in der FURCHE. vorerst noch nicht außer acht lassend, ja relativierend vor.

Bei den Inspiratoren zunächst des Klassenkampfes in den industriellen Entwicklungsländern des 19. Jahrhunderts und heute des Verteilungsanspruchs der Dritten und Vierten Welt sowie bei dessen Aposteln unter uns findet sich nichts von solch abwägender Vorsicht. Ihre „Schule” ist längst eine andere: Rousseaus und der Jakobiner, und seither ihrer rechts- und linkstotalitären Nachahmer.

Was lehrt der Blick auf die „rosa” Utopien durch die Zeiten? Sie sind verblüffend gleichförmig, wenig variable Wiederholungen immer derselben durchrationalisierten Insektengesellschaften, die von Babeuf, Cabet, Fourier und anderen noch als irdische Paradiese halluziniert wurden, ob-zwar ihnen, wie wir heute wissen, die KZ der Nazis und der Nach-kriegs-„Volksdemokratien”, die GULags in der Sowjetunion und Titos Goli otok, die Gehirnwäsche in Maos China und seither, Pol Pots Mordregime und Vietnams Umerziehungslager an Realität näher kommen als die „schwarzen” Dys- oder Kakotopien, von J. Swifts satirischem Reiseroman von 1726 an bis zu F. Dürrenmatts „Winterkrieg in Tibet”, und zu den diversen Schocker-Verfilmungen.

Was unstrittig eine gewisse Spezies von Generation zu Generation nicht hinderte oder hindert, nach Moskau, Kuba, Nordkorea, Managua zu wallfahrten, als wär's das (himmlische) Jerusalem.

Zweier davon, Ernst Bloch und Georg Lukäcs, wird zur Zeit aus Anlaß ihres 100. Geburtstages eifrig gedacht. Sie sanktionierten, wie andere auch, mit ihren Totalitätsapologien das Tun von Massenmördern, von Lenin an, die jene Wasserträger allerdings so wenig benötigt hätten wie ein Hitler seinen „Kronjuristen” Carl Schmitt oder Ernst Jüngers „Der Arbeiter / Herrschaft und Gestalt” von 1932. Jedoch lieferten sie den anderen, den Mitläufern und Mitmachern, in nicht geringer Zahl die Legitimation, den Wortnebel, das gute Gewissen, die enthemmende „Moral”.

Die gutgemeinte Utopie hat ihre Unschuld verloren. Worüber Morus, 19 Jahre vor seinem Märtyrertod, noch spekulieren durfte, sehnsuchtsvoll vielleicht oder ironisch-weise wie sein Freund Erasmus von Rotterdam, der 1511 i schon mit dem „Lob der Torheit” der Welt seinen Eulenspiegel vorgehalten hatte, sollte uns, aus Erfahrung und Einsicht, versagt sein.

So schmerzlich, wie jeder Erkenntnisschritt es sein mag: Sozialpolitisches Experimentieren, ob mit dem Wort oder in der Tat, steht nicht erst seit 1789 oder 1917 prinzipiell unter dem Verdacht, kriminell zu sein.

Der Autor ist Professor für osteuropäische Geschichte und Südostforschung an der Universität Wien.

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