Berühmter „Nicht-Ort“ - In Thomas Morus’ „Utopia“ (hier zu sehen das Frontispiz der Ausgabe von 1516) herrscht keine absolute Gleichheit – Geschlechterunterschiede und Sklaverei bestehen­ fort. - © Foto: © The Trustees of The Wormsley Fund

Die beste aller Welten?

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Utopien sind Gegenbilder zu einer als mangelhaft empfundenen Realität. Die Modelle zur Weltoptimierung kritisieren daher stets den historischen Rahmen, dem sie entspringen. Alberto Manguel stellt einige vor.

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Utopien sind Gegenbilder zu einer als mangelhaft empfundenen Realität. Die Modelle zur Weltoptimierung kritisieren daher stets den historischen Rahmen, dem sie entspringen. Alberto Manguel stellt einige vor.

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Die beste aller Welten existiert nicht. Und sie wird wohl auch nie Wirklichkeit. Ersehnt und erdacht aber hat man sie seit Jahrhunderten – und in einem imaginären Irgendwo (beziehungsweise Irgendwann) verortet. Einem „U-Topos“, was auf Griechisch „Nicht-Ort“ bedeutet. Wie unterschiedlich diese fiktionalen Idealwelten der Dichter und Denker auch aussehen, der Impuls ist ihnen gemein: Sie entspringen einem Oppositionsgeist, einem Missbehagen an den herrschenden Verhältnissen. Utopien sind Gegenbilder zu einer als mangelhaft empfundenen Realität. Die Modelle zur Weltoptimierung kritisieren daher – gleichsam als Subtext – stets den historischen Rahmen, dem sie entspringen. Die ideale Welt, der ideale Staat sind freilich ohne den idealen Menschen nicht zu machen. Den gilt es zu erziehen, zu formen. Aber braucht es denn unbedingt einen Staat? „We announce the birth­ of a conceptual country, NUTOPIA“, postulierten John Lennon und Yoko Ono im Jahr 1973. Sie erklärten ihre Wohnung im New Yorker Dakota Building zur Botschaft des „Konzeptlandes“, das weder Grenzen noch Pässe kennt und in dem nur die kosmischen Gesetze gelten. „Imagine“, wir wären alle Brüder und lebten alle in Frieden …

Dieses Nutopia steht am Anfang – und am Ende – einer Tour d’Horizon, die der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel in seinem Buch „Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte“ unternimmt. Am Anfang deshalb, weil es Nutopia war, das zu dem literarischen Streifzug inspirierte. Der Herausgeber des Bandes, Dominique Tourte, hatte die Gründungserklärung zum Konzept-Land 2016 in Lyon­ entdeckt, in der Ausstellung „Yoko Ono: Lumière de l’aube“ (Licht der Morgendämmerung). Im selben Jahr schrieb man das 500-Jahr-Jubiläum des Werkes „Utopia“ von Thomas Morus. Das sei die Initialzündung dafür gewesen, so Tourte, die „Kontinuität des Utopiegedankens vom 16. bis ins 20. Jahrhundert“ darzustellen. Der Verleger konnte Alberto Manguel dafür gewinnen, eine Auswahl von 20 strahlkräftigen Werken zu kommentieren, die „uns in diesen unruhigen Zeiten in den grundlegenden europäischen Idealen, den Gedanken des Humanismus, bestärken“. Freilich: Auch Dystopien, also ins Negative gekehrte Utopien, klagen durch extreme Zuspitzung bestehender Missverhältnisse das Prinzip der Menschlichkeit ein, man denke nur an Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder George Orwells „1984“. Aber das Team Tourte-Manguel hat sich für die positiven, optimistischen Visionen entschieden.

Wie unterschiedlich diese fiktionalen Idealwelten auch aussehen, der Impuls ist ihnen gemein: Sie entspringen einem Missbehagen an den herrschenden Verhältnissen.

Das Ergebnis ist ein chronologisch geordneter Band, dessen prachtvolle Illustrationen allerdings den Raum für Text beschneiden. Natürlich wartet das Buch mit weltberühmten Beispielen auf: Morus’ „Utopia“, Tommaso Campanellas „Sonnenstaat“, Francis Bacons „Nova Atlantis“ oder Cyrano de Bergeracs „Reise zum Mond“ sind ebenso vertreten wie „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift, „Le nouveau monde amoureux“ (Die neue Liebeswelt) von Charles Fourier, Étienne Cabets „Reise nach Ikarien“ oder „Islandia“ von Austin Tappan Wright. Doch gibt es auf dieser literarischen Reise auch weniger bekannte Utopien zu entdecken: ­etwa die (realen) planwirtschaftlich organisierten Dörfer („Reduktionen“) im Jesuitenstaat Paraguay zum Schutz der indigenen Bevölkerung vor Versklavung. Eine Bestandsaufnahme dortiger Verhältnisse bot die „Información en derecho“ (Rechtsauskunft, 1535) des spanischen Bischofs und Rechtsgelehrten Vasco de Quiroga. Er legte der spanischen Krone einen menschlicheren Umgang mit den Indigenen nahe und empfahl die Einrichtung von Gemeinwesen, „sogenannten Hospitalen, in denen alle Arbeiten gleichmäßig verteilt wären, um keinem Einzelnen zu viel Anstrengung abzuverlangen“ (Manguel).

Ganz ins Reich der Fiktion wiederum führt die englische Aris­tokratin und Philosophin Margaret Cavendish: In ihre „gleißende Welt“ (The Blazing World, 1666) gelangt man über den Nordpol. Eine irdische Besucherin strandet dort nach einem Schiffsunglück – und macht als gottgleich verehrte Kaiserin Karriere. Für den Bestand der Herrschaft braucht es ein (weiteres) Wunder: Ein aus goldenem Sand gewonnener Gummi sichert dem kaiserlichen Geschlecht eine Lebenserwartung von mehreren Jahrhunderten. In Sachen Religion optiert die Regentin für eine sanfte Bekehrung der Untertanen, und mit dem Gesetzeswirrwarr, der nur zu Zwietracht und Krieg führt, räumt sie radikal auf.

Für eine freiere Gesellschaft

„Niels Klims unterirdische Reise“ (1741) des dänischen Philosophen und Schriftstellers Ludvig Holberg holt nicht nur weit ins Phantastische aus, sondern zudem ins Lateinische, um der Zensur zu entkommen. Der Aufklärer Holberg verbannt den Helden seiner Satire ins Innere der Erde, auf einen Planeten, bewohnt von Baum-Menschen mit exzentrischen Sitten. Auch Niels Klim bringt es zum Herrscher, doch der Zauber währt nicht lange … Frauen an die Macht, das heißt es dann wieder im Roman „Herland“ (1915) der reformbewegt-feministischen Charlotte Perkins Gilman. In ihrem Frauenland wird auf Männer in jeder Lebenslage verzichtet; frau vermehrt sich durch Parthenogenese – und versteht sich ganz generell auf selektive Zucht, etwa bei Obst, Gemüse oder Katzen.

Die jeweils sehr knappe Vorstellung der Autoren und Werke wie auch die subtil ironischen Kurzkommentare Alberto Manguels machen Lust auf mehr. Sich mit den vorgestellten Utopien näher zu befassen, ist denn auch gewiss ein lohnendes Unterfangen. Denn welcher Epoche die Idealwelten auch entstammen: Sie streben eine freiere, gleichere, solidarische Gesellschaft an. Und sie setzen gern auf die Kraft der Vernunft. Dennoch bedarf es auch in utopischen Welten klarer Regelwerke. Und tatsächlich mangelt es nicht an Kodizes, ob über die Geschlechterbeziehungen, die Kindererziehung, die Arbeit, das Eigentum oder die Sprache. Selbst Kleiderordnungen sind keine Seltenheit. Für Individualismus gibt es in der egalitären Idealgesellschaft eben wenig Spielraum. Sogar die völlige Gleichheit scheint manch utopischem Denker zu brisant: Die Frauen in Morus’ Inselstaat Utopia unterstehen der Autorität ihrer Männer, auch die Sklaverei ist nicht abgeschafft. Der ungestörte Bestand dieser Enklaven des Guten will ebenfalls geregelt sein: Gesetzesbrecher werden hart bestraft, störende Einflüsse von außen befürchtet. In „Islandia“ gibt es daher Obergrenzen für Besucher aus der Fremde.

Neues Unbehagen an der Realität

So imaginär die „Nicht-Orte“, so phantastisch sind auch viele ihrer Bewohner. Nicht selten begegnen wir Mischwesen aus Mensch und Tier, selbst Pferde fungieren als ideale Geschöpfe. Je verfremdeter die besten Welten, desto kraftvoller lassen sie sich mit hehren Sozialstandards, technischen Segnungen und humanen Tugenden ausschmücken. Den his­torischen Bogen der Utopien nur bis ins Jahr 1973 (Nutopia) zu spannen, bedeutet freilich, diverse Thematiken auszusparen, die das utopische Denken der Folgezeit bestimmen. Ob Umwelt, Klimawandel, Gentechnik oder Digitalisierung: Für neues Unbehagen an der Realität – und neue Gegenbilder – besteht reichlich Grund.

Sehnsucht Utopie - © Folio
© Folio
Buch

Sehnsucht Utopie

Eine Reise durch fünf Jahrhunderte
Von Alberto Manguel
Aus dem Französ. von Amelie Thoma
Folio 2018
104 S., geb., € 32,–

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