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Erneuerung auch für „Raiffeisen"

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Am Anfang der genossen- schaftlichen Unterneh- mensform stand bei Raiffeisen die Idee der Selbsthilfe für wirt- schaftliche und krisenungesi- cherte bäuerliche Betriebe, wie seine Situationsbeschreibung des Abhängigkeitsverhältnisses zum landwirtschaftlichen Han- del und Kredit ersichtlich macht. In Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität und sozialen Exi- stenzsicherung ist dieser Ur- sprung verlorengegangen. So stellt sich die Frage, wie der ge- nossenschaftliche Förderungs- auftrag der Selbsthilfe heute for- muliert und realisiert ist.

Betrachtet man die Leistungs- beziehungen zwischen Genos- senschaften und ihren Mitglie- dern, so sind diese von nichtge- nossenschaftlichen kaum noch zu unterscheiden. Es sind nicht die Mitglieder, die durch ihren hilfswirtschaftlichen Gemein- schaftsbetrieb versuchen, sich ihre wirtschaftliche und soziale Existenz zu sichern, sondern die Genossenschaft bietet neben einer Vielzahl anderer Organi- sationen bestimmte funktionale Leistungen an.

Damit hat sich die Beziehung zwischen Genossenschaft und Mitgliedern zu einer Klienten- beziehung herausgebildet, die von ihrem sozialen Charakter und der wirtschaftlichen Vor- teilhaftigkeit für die Mitglieder mit anderen Unternehmen na- hezu beliebig austauschbar wird. Die Genossen helfen sich nicht mehr selbst, sondern ihnen wird bestimm- tes wirtschaftliches Leistungsver- halten von ihrer Genossenschaft nahegelegt.

Die Selbstbestimmung ist den Mitgliedern aus der Hand genom- men, der Fremdbestimmung gewi- chen. Ein hochqualifiziertes profes- sionelles Management organisiert nicht nur die tägliche Abwicklung der Geschäftsbeziehungen mit den Genossen, sondern bedient sich da- bei eines administrativen Regel- werkes, das auch als Bürokratie bekannt ist. Auffassungen und Entwicklungsperspektiven der Genossenschaftsleitung stimmen daher allzu oft nicht mehr mit de- nen der Mitglieder überein, der Mitgliederwille wird unter Umstän- den geradezu konterkariert.

Entscheidungen über Investi- tion-, Preis-, Absatz- oder Quali- tätspolitik der Genossenschaft werden ausschließlich in der ge- schäftsführenden Administration gefällt. Das ureigene genossen- schaftsdemokratische Gremium der Willensbildung, die Generalver- sammlung, erstarrt zur Routine- veranstaltung mit unveränderli- chem Programmablauf aus Re- den, Totengedenken, Ehrungen, kleinen Präsenten und Verpfle- gung.

Der Erfolg der genossenschaft- lichen Entwicklung stand als langfristiges Ziel im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Unterneh- mensplanung, nicht die einzelbe- trieblichen Wünsche und Anfor- derungen der Mitglieder. Lang- fristigkeit wurde nicht im Sinne einer nachhaltigen, generationen- verantwortlichen Zukunftspla- nung verstanden, sondern als schnell zu erreichendes Wachs- tumsziel.

Gerade im landwirtschaftli- chen Sektor haben die Genossen- schaften durch einzelne selek- tionsfördernde Maßnahmen zum Verlust agrarkultureller und um- weltgerechter Landbewirtschaf- tung beigetragen, der den agrar- strukturellen Wandel auf die Mit- gliederstruktur der Genossen- schaften übertragen hat. Heute könnten die genossenschaftlichen Unternehmen ihren Beweis lie- fern, wie sie Langfristigkeit als wirkliche Zukunftsaufgabe ver- stehen, indem sie im Einklang mit Umwelt- und Naturschutzve- reinigungen eine Geschäftspoli- tik wider eingefahrener Wachs- tumsdynamik vertreten.

Der Autor ist Dozent am Institut für Sozial- ökonomie der Agrarentwicklung der Techni- schen Universität Berlin, sein Beitrag ein Auszug aus Agrarische Rundschau 4/1990.

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