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Erziehen gegen Selbstmord

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Der bekannte Fachmann fiir Selbstmordverhütung, Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel aus Wien, wurde von Dr. Gerhard Brandl, Individualpsychologe und Psychotherapeut in Salzburg, über die Beziehungsqualität im Eltern-Kind-Verhältnis interviewt. Wir zitieren aus dem Gespräch.

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Der bekannte Fachmann fiir Selbstmordverhütung, Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel aus Wien, wurde von Dr. Gerhard Brandl, Individualpsychologe und Psychotherapeut in Salzburg, über die Beziehungsqualität im Eltern-Kind-Verhältnis interviewt. Wir zitieren aus dem Gespräch.

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RINGEL: Täglich sterben in der Welt mehr als tausend Menschen durch Selbstmord; die Zahl der Selbstmordversuche liegt um ein Vielfaches (wahrscheinlich acht- bis zehnmal) höher. Es ist oft nur eine Frage der Zeit, bis aus dem „Versuch“ grausame, unmenschliche Wirklichkeit wird, die nicht zuletzt die Beziehungslosigkeit in unserer heutigen Welt widerspiegelt.

BRANDL: Ihre mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen zu dieser Thematik lassen erkennen, daß es sich vielfach gar nicht um „Freitod“ handelt, sondern um Menschen, die einer unseligen psychischen Dynamik zufolge ihre Lebenskraft einbüßen können. ,

RINGEL: Den Menschen als isoliertes Einzelwesen gibt es nicht, besser noch: er ist nicht lebensfähig. Falls sich ein diesbezügliches Gefühl, z. B. der Angst oder der aggressiven Distanz, durchzusetzen beginnt und zur Grundstimmung wird, ist Leben bereits akut bedroht. Die bisherige Lerngeschichte eines solchen „Individuums“ spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Wer bei seinem Eintritt in die Welt auf Ablehnung und Zurückweisung gestoßen ist, auch wenn sich die Eltern das vielleicht nicht eingestehen, der identifiziert sich am Ende leicht mit diesem „Nein“. Das Resultat ist unter Umständen der Selbstmord, zumindest aber neurotische Selbstschädigung.

BRANDL: Was könnte prophylaktisch geschehen?

RINGEL: Kein Mensch dürfte dem Irrtum verfallen, er selber oder ein anderer sei lediglich das Produkt von Vererbung oder familiären Umwelteinflüssen. Einem solchen Schick-salsglauben hat sich vor allem Alfred Adler mit seiner Individualpsycho-logie, deren Bedeutsamkeit für die Erziehungspraxis neu zu entdecken

ist, energisch widersetzt. Es käme auf den Versuch der Selbstverwirklichung an, der aber nur in einem positiven Sozialbezug zielführend ist.

BRANDL: Wie sollten sich Eltern, Erzieher, Lehrer verhalten, wenn sie mit Lebensverneinung in irgend einer Form konfrontiert sind?

RINGEL: Moralistische Entrüstung und besserwisserische Stand-punkthaftigkeit würden ein doppeltes Mißtrauen nur noch vertiefen -der Umwelt und sich selber gegenüber. Projektion von Schuldängsten

auf Schwache und Kleine löst keine Probleme, sondern eskaliert diese unweigerlich.

BRANDL: In welcher Situation befinden sich Eltern, die, wenn auch “'nbewußt, ihre Kinder neurotisieren und damit unter Umständen einen Prozeß einleiten, der im Selbstmord endet?

RINGEL: Wenn ich Fälle brutaler Gewalttätigkeit übergehe, ist zu antworten: in einer ausweglos scheinenden Lage. Erziehung mobilisiert dazu noch häufig eigene Frühkonflikte. Wenn nun Eltern, die selber einst verwöhnt worden sind, ihre Kinder vernachlässigen, oder wenn umgekehrt einstmals vernachlässigte Menschen meinen, ihre Kinder müßten alles „haben“, sind zwar die Mittel verschieden, das Ergebnis aber bleibt gleich.

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