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Gerichtstag vor Gott und den Menschen

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Der Roman erschien in Jugoslawien 1966, seitdem wurde er in zehn Sprachen übersetzt. Nun auch ins Deutsche. Der Otto-Müller-Verlag benutzte eine Ubersetzung aus der DDR. Das Erscheinen des Buches dort war beabsichtigt, bisher aber nicht möglich. Wenn man das Buch gelesen hat, möchte man hinzufügen: aus verständlichen Gründen; denn seine Handlung zeigt das Funktionieren eines totalitären Systems.

Der Roman spielt in Sarajewo zur Zeit der bis 1878 dauernden türkischen Herrschaft. Das Geschehen bietet sich dar in den fiktiven Aufzeichnungen von Ahmed Nurudin. Er ist Scheich in einem Derwischkloster am Rande der Stadt; ein Derwisch steht auf Wacht für die Ordnung der Welt, er hat gelernt, zu gehorchen, zu dulden, für den Glauben zu leben. Das Klosterhaus wurde gestiftet von Alijaga, dem reichsten Mann der Stadt, es dient den Derwischen zur Zusammenkunft und den Armen zur Zuflucht, es besitzt den Ruf eines heiligen Ortes. Ruhm und Heiligkeit verbinden sich mit ihm, dem Scheich Ahmed Nurudin. Seine Aufzeichnungen stellen ein Selbstgespräch dar und auch eine Selbstanklage, eine Verhandlung über sein Verhalten vor Gott und den Menschen, in der er als Richter, Zeuge und Angeklagter in einer Person auftritt. In diesem Verfahren fällt alles von ihm ab. Was bleibt, ist „die nackte Haut, ein nackter Mensch“.

Der Roman hat außer Ahmed noch zwei zentrale Figuren: Hasan, den Sohn Alijagas und Mula Jusuf, einen jungen Derwischbruder im Kloster. Auf Ahmed wirkt sein Freund Hasan wie ein Zauberer, weil er

Mensch ist. Er lehrt, daß der Mensch gewinnt, wenn er gibt, er verkörpert Ungebundenheit, freien Wind, heiteren Himmel — das Leben schlechthin, das weiter ist als alle Gebote. Die Moral ist für Hasan nur eine Idee, das Leben aber das Wirkliche. Während der Derwisch-Denkweise die Hingabe an eine starre Idee entspricht, befolgt Hasan den Rat, der ihm auf einer Reise in Smyrna zuteil wurde: „Wenn du siehst, daß ein junger Mensch zum Himmel strebt, pack ihn an den Beinen und zieh ihn auf die Erde.“ Aber der Scheich Ahmed Nurudin läßt sich auch von ihm nicht auf die Erde ziehen.

Mula Jusuf ist nicht fertig geworden mit einem Schicksal, das in seiner Jugend ihm und seiner Mutter im Krieg widerfuhr und dessen Zeuge der damalige Derwischsoldat Ahmed Nurudin wurde. Der Derwisch machte den zum Waisenkind Gewordenen später ausfindig und sorgte dafür, daß er im Kloster Aufnahme fand, so daß er den jungen Ordensbruder stets zur Seite hat, ohne zu spüren, daß dieser junge Mensch, — hart, erbarmungslos, bereit zu allem — nur aus dem Haß lebt: er denunziert Ahmeds Bruder, so daß dieser auf die Festung kommt und dort von den Machthabem ermordet wird, und er ist schuld daran, daß auch Ahmed verhaftet wird.

Im Gefängnis macht Ahmed sich die Aussichtslosigkeit seiner Lage klar: „Wenn ich nicht schuldig bin, haben sie sich geirrt. Wenn sie mich freilassen, geben sie ihre Fehler zu. Kein vernünftiger Mensch kann von ihnen verlangen, daß sie gegen sich selbst handeln. Die Forderung wäre unsachlich und lächerlich. Also muß ich schuldig sein. Wie aber können sie mich freilassen, wenn ich schuldig bin?“ Diesmal noch entgeht er seinem Schicksal, da Hasan seine Freilassung zu bewirken vermag.

Bald danach erhält er Gewißheit über die Rolle, die Mula Jusuf gespielt hat, und nun beginnt für ihn ein neues Leben, ebenfalls genährt von Haß: „Wir werden uns nicht mehr trennen, der Haß hat mich, ich habe ihn. Das Leben hat einen Sinn erhalten.“ Der Scheich schürt die Mißstimmung in der Stadt, sorgt dafür, daß Aufruhr daraus entsteht. Der Kadi wird ermordet. Er wird sein Nachfolger, bis er durch Intrigen, Bezichtigungen, vorgenommene, unterlassene und unterschobene Handlungen zu Fall kommt, nachdem er in seinem Amt als Kadi erfahren hat, daß Macht eine schwere und komplizierte Angelegenheit ist. Er weiß, was ihm als Urteilsspruch bevorsteht. Und wieder ist es Jusuf, der die Fäden zum Schlußakt seines Lebens geknüpft hat.

Die Skizze das Handlungsablaufs deutet das Spannungsfeld an, in dem die Menschen dieses Romans sich bewegen. Zu den drei Hauptakteuren treten noch zahlreiche plastisch gezeichnete Nebenfiguren, Bürger der Stadt und Funktionäre des Systems. In historischem Gewand entsteht bis ins Detail Abbild und Verdichtung erfahrener Wirklichkeit unseres Jahrhunderts. Das Leben des Menschen in einer Diktatur, seine existenzielle Gefährdung, das Struk-turgefüge der Herrschaft, das Funktionieren ihres Machtapparates — dies alles steigt aus den Seiten des in epischer Breite fesselnden, farbenprächtig und bildreich erzählten Romans allgemeingültig empor.

DER DERWISCH UND DER TOD: Roman von Mesa S elmovii, Otto Müller, Salzburg 1972. 336 Seiten, Leinen S 196.—.

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