Freud'scher Vatermord

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Gedanken über den "Mann Moses und die monotheistische Religion".

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Gedanken über den "Mann Moses und die monotheistische Religion".

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Wer am 9. Jänner in die Synagoge geht, hört dort mit dem Tora-Abschnitt (Exodus 1,1-6,1) einen Text, auf den eine der umstrittensten Religionskritiken zurückgeht: Sigmund Freud ­entwickelte aus dem Bericht über Moses’ frühe Jahre seine These über den Ursprung des Monotheismus, die kurz vor seinem Tod 1939 als „Der Mann Moses und die mono­theistische Religion“ erschien. Danach wuchs Moses dank Adoption als Ägypter auf und war ein Anhänger des wahren Gründers des Monotheismus, Pharao Echnaton. Nach dem Exodus aus Ägypten vermittelte er Echnatons Glaubens­ideen den Israeliten. Während einer Rebel­lion töteten diese den Ägypter Moses. Als die Israeli­ten später eine eigene Religion entwickelten, wurde dieser Vatermord aus der kollektiven Erinnerung getilgt; die verdrängte Schuld führte zu einem neuen Moses-Bild: Moses als Messias, dessen Wiederkunft die Israeliten erlösen würde.

Im Judentum ist nach Gott niemand so zentral wie Moses für die Entstehung des Volkes Israel und seiner Religion. Ihn vom Thron des Religions­gründers zu stoßen, kommt daher auch einem Vatermord gleich. Freud selbst gab zu, dass seine Darstellung spekulativ war, stützte sich aber auf damalige wissenschaftliche Erkenntnisse. Heute gelten seine Thesen über die Entstehung des Judentums als kaum der Aufregung wert – anders als die weiteren Fragen, die sein Moses-Buch aufwarf: Enthält der Monotheismus mit seinem absoluten Wahrheitsanspruch ein grundsätzliches Gewaltpotenzial? Steckt in jedem und jeder von uns aus der Kindheit die Sehnsucht nach einem starken Vater, die uns in der Religion nach einer absoluten Autorität suchen lässt? Ach ja, und die Frage, ob die christliche Welt vor zwei Wochen die Ankunft von Moses’ „Ersatzmann und Nach­folger“ feierte, wie Freud schrieb, kann man auch diskutieren.

Der Autor forscht zu Jewish Studies an der University of Pennsylvania, Philadelphia/USA.

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