7026133-1989_12_13.jpg
Digital In Arbeit

Nirgends ist Gott so tot…

Werbung
Werbung
Werbung

Nirgends ist Gott so tot wie in Österreich“ stand wenige Monate vor dem Papstbesuch 1988 in einem Leitartikel des bekannten Journalisten Peter Michael Lingens (Profil Nr. 7/1988). Zu diesem Satz veranstaltete der Katholische Akademikerverband der Erzdiözese Wien am 12. Oktober 1988 eine hochinteressante Diskussion. Die Argumente, mit denen Lingens dort seinen provokanten Satz zu begründen versuchte, bieten nach wie vor Stoff zum Nachdenken.

Warum ist für Lingens Gott in Österreich so besonders tot? Er nannte die Krise der Moral, den Verlust an Hoffnung und „unsere Angst, etwas in Gut und Böse einzuteilen“. Daß sich die Kirchenaustritte in Grenzen halten, sage nichts über Religiosität aus, formulierte der langjährige „Profil“-Chef spitz: „Die Österreicher treten nicht aus der Kirche aus, weil es ihnen zu unwichtig ist.“

Gott spiele - so Lingens — im politischen Leben Österreichs keine Rolle, während das in Amerika — wie immer man das bewerten wolle — sehr wohl der Fall sei. Dort werde in Politikerreden — für uns kaum denkbar — nicht selten der Segen Gottes auf ein Gesetzeswerk herabgerufen. Es liege aber vielleicht am seinerzeitigen engen Bündnis von Thron und Altar. Mit dem Sturz des Herrscherhauses sei „Gott ein bißchen mitgestürzt“.

Ferner seien in Österreich sehr wichtige geisteswissenschaftliche Strömungen entstanden, die laut Lingens „Gott relativieren beziehungsweise erklären“: der Positivismus, die Psychoanalyse. Der Marxismus sei in Österreich besonders stark gewesen, der Nationalsozialismus hätte nicht in diesem Maße kommen können, wenn es hierzulande eine intakte Religiosität gegeben hätte.

Die Kernaussage von Lingens zu seinem eigenen Gottesbild: „Gäbe es keine Menschen, dann gäbe es in meiner Vorstellung auch Gott nicht. Das unterscheidet mich von einem gläubigen Menschen, für den es Gott auch ohne die zugehörigen Lebewesen gibt.“

Gläubigkeit wäre für Lingens dann relevant, wenn jemand bei seinen Handlungen überlegte, ob diese gottgefällig oder sündhaft wären. „Ich behaupte, daß das praktisch nicht vorkommt“, formulierte Lingens herausfordernd. Weder dächten Politiker bei ihren Entscheidungen darüber nach, was christlich sei, noch junge Menschen in Fragen der Sexualmoral.

Eine „Skala von Antworten“ in Form von Mythen auf seit Beginn der Menschheit existierende Fragen müsse es geben, räumte Lingens ein und verwies auf die Formulierung „Wenn es Gott nicht gibt, müßte man ihn erfinden“. Sein paradox klingendes Resümee: „Wir müssen Mythen gleichzeitig glauben können und trotzdem wissen, daß es Mythen sind.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung