Der wichtigste Chronist der Ära Kreisky

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Am 8. August feiert Peter Michael Lingens, Gründungschefredakteur des „profil“ und dessen langjähriger früherer Herausgeber, einer der Großen der Branche, seinen 70. Geburtstag.

Es war eine jener Begegnungen, die im Gedächtnis haften bleiben. Die Szene begab sich bei der Feier zum 60. Geburtstag von Heide Schmidt. Beim Geburtstagsfest für Schmidt wurde naturgemäß heftig politisiert – und da im November des Vorjahres die von der US-amerikanischen Finanzindustrie durch massenhafte Abzockereien verursachte Weltwirtschaftskrise schon längst den alten Kontinent erreicht hatte, drehten sich die politischen Diskussionen vornehmlich um dieses Thema.

In eine heftige Debatte waren unter anderen der Journalist Peter Michael Lingens und eine sozialdemokratische Abgeordnete verwickelt, die zum linken Flügel der SPÖ zählt. Dass dabei die Ansichten des Wirtschaftsliberalen Lingens und der Sozialdemokratin stark divergierten, liegt auf der Hand. Doch wie so häufig überraschte Lingens sein Gegenüber mit einem überaus feinsinnigen Argumentationsmuster. Die Abgeordnete betonte im Verlauf des mit viel Emotion geführten Diskurses immer wieder, dass mangelnde Staatsaufsicht, fehlende Regeln für riskante Finanztransaktionen und globale Steuerungssysteme zum kriminellen Finanzdesaster, zu weltweiter Massenarbeitslosigkeit und Verelendung geführt hätten. Lingens hielt dagegen mit dem verblüffenden Argument, dass die Krise gerade durch Staatsversagen ausgelöst worden sei. Denn schließlich seien die Regierenden für die Mängel verantwortlich zu machen, da es ohnedies viel zu viele Regeln gäbe. Man habe lediglich verabsäumt, sie zu kontrollieren.

Anfänge bei „AZ“ und „Kurier“

Womit Ursache und Wirkung verwechselt werden. Denn die überbordende Gier – in der politischen Übersetzung Neoliberalismus genannt – ist die Grundlage der kriminellen Aktienmachenschaften. Die politische Stimmung wurde aufbereitet, indem ebenso kluge wie argumentierkräftige Medienschaffende die Gier als Grundmuster des Lebens in die Köpfe der Menschen weltweit einhämmerten. Nur so konnten die Neoliberalen an die Macht kommen beziehungsweise sich so lange an der Spitze halten. Diese Argumentationskette wollte Peter Michael Lingens partout nicht gelten lassen. Mag sein, dass in der Hitze des Gefechts dem Erzjournalisten schlicht die tagesaktuellen Rösser durchgegangen sind, wie ab und an in seiner langen und erstaunlichen Karriere.

Lingens hat wie wenig andere das journalistische und somit politische Geschehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich geprägt. Seine ersten Artikel waren in der Arbeiter Zeitung und im Kurier zu lesen. 1970 holte ihn Oscar Bronner zum profil, das er bis 1987 als Gründungschefredakteur leitete. Drei Jahre später übernahm er die Herausgeberschaft und Chefredaktion der österreichischen Ausgabe der deutschen Wirtschaftswoche. 1993 wechselte er in die Chefredaktion des Standard. Derzeit arbeitet er als Kolumnist für profil.

In seiner Zeit als Chefredakteur und Herausgeber bei profil wurde Lingens zum wichtigsten Chronisten der Ära Kreisky. Vor allem der Fall Kreisky-Wiesenthal ging in die Geschichte ein: Lingens verband eine enge Freundschaft mit dem Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal. Er trug als persönlicher Sekretär des „Nazi-Jägers“ viel dazu bei, aus Wiesenthal einen Kommunikator zu machen. Als Kreisky Simon Wiesenthal im Zuge einer Auseinandersetzung als V-Mann der Gestapo verdächtigte, nannte Lingens das in einem Kommentar des profil „ungeheuerlich, unmoralisch und opportunistisch“.

Da Kreisky als Bundeskanzler kritisiert wurde, wurde das Presseverfahren als Offizialdelikt verhandelt und Lingens in Österreich in letzter Instanz zu einer Geldstrafe von 30.000 Schilling verurteilt. In der Urteilsbegründung vertrat das Oberlandesgericht Wien den Standpunkt, ein Journalist habe sich jeder „Wertung“ zu enthalten. Zehn Jahre später hob der Europäische Gerichtshof diese Verurteilung in einem Urteil auf, das erhebliche Bedeutung für die Berichterstattung in der EU erlangte. Heute beurteilt Lingens seinen einstigen Widersacher Kreisky milde. In seinen soeben erschienen Lebenserinnerungen (s. Kasten) will er ihn „differenziert“ gesehen haben: „viel Licht – doch durchaus eine Menge Schatten“.

„Viel Licht – und auch viel Schatten“

Dieser Satz trifft auch auf Lingens selbst zu, der sich selbst nicht festlegen lassen will – im katholisch geprägten Land Österreich heißt dies nicht ohne Grund „festnageln“. Der einstige Sozialist kann und will heute keiner mehr sein, der einstige allzu sittenstrenge Moralist hält nach den eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Affäre K. heute nichts mehr von übergroßen moralinsauren Abrechnungen. Lediglich gegenüber sich selbst ist er so unerbittlich wie einst im verbalen Duell mit seinen wechselnden Kontrahenten, gegen die er mitunter das Wort als Schwert eingesetzt hat.

In seinen Lebenserinnerungen, die ein Vermächtnis an seinen jüngsten Sohn Eric sind, analysiert er sich und seine Fehler mit großem Mut. Er zieht einen Schlussstrich unter das Beziehungsgeflecht mit seiner mächtigen „Übermutter“ Ella, die ebenso wie der Vater Auschwitz überlebt hat. Besonders berührend ist die Reflexion über den Sinn des Lebens. Lingens merkt speziell für seinen Sohn Eric an, dass sich der Mensch „aber wohl dadurch am ehesten definiert, was er als den Sinn des Lebens erachtet“. Bei Lingens ist es die Liebe, und der Freimaurer bekennt sich in diesem Zusammenhang beinahe als Christ, wenn er meint, dass die christliche Nächstenliebe in Wahrheit das menschliche Gleichheitsgebot gebracht habe. Anders formuliert: Diesem Gebot ist die allgemeine Deklaration der Menschenrechte zu verdanken.

Leben im Widerspruch – mit sich selbst und seiner Umwelt – scheint die Grundmelodie des Peter Michael Lingens zu sein. Und dies auszuhalten, dazu gehört viel Mut. PML dürfte ihn haben.

* Die Autorin ist Publizistin und Kommunikationsstrategin in Salzburg und Wien

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