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Ruf nach mehr Taschenbüchern

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Die goldene Zeit des Buchhändlers als Förderer der Literatur ist in der Bundesrepublik seit etwa einem Jahrzehnt aus und vorbei. Der literarisch engagierte Sortimenter hat es heute schwer, anspruchsvolle Neuerscheinungen zu verkaufen, denen er persönlich besondere Bedeutung zumißt. Diese Wirkung erzielen heute fundierte Rezensionen der Presse viel systematischer. Außerdem hat sich die Einstellung des lesenden Publikums gewandelt, vor allem in der jüngeren Generation. Es sucht nicht mehr in dem Maße wie die Älteren das Gespräch über Neuerscheinungen. Der Leser von heute kommt mit präzisen Vorstelbingen zum Buchhändler, der damit zwangsläufig vom „Medizinmann des Geistes“ zum Verteiler degradiert wird.

Die Tendenz wird auch in der DDR deutlich empfunden. In einer Untersuchung über die Situation des Buchhändlers heißt es: „Der Beruf des Buchhändlers setzt mehr Liebe zum Buch denn Liebe zum Geld voraus, und das hat zur Folge, daß sich nur wenige Zehnklassenabsolventen für diesen Beruf entschließen.“ Im Gegensatz zu industriellen Berufen hat der Buchhändler in der DDR keine Möglichkeit, sich durch Betriebsakademien weiterzubilden. Ohne Großbetrieb im Rücken ist es mit Sozialleistungen wie Urlaubsplätzen und Kindergärten schlecht bestellt. Fluktuation ist die Folge, Stammpersonal bleibt ein Wunschtraum, Buchhändler — überwiegend Frauen — ein Mangelberuf. Das ist bedauerlich, denn diesem Beruf kommt auch in der DDR die entscheidende Mittlerrolle zwischen Autor, Verlag und Leser zu.

In den DDR-Buchhandlungen ist Selbstbedienung Trumpf. Teilweise hat sich sogar — wie in der Buchhandlung am Alexanderplatz — der Selbstbedienungskorb wie im westlichen Supermarkt durchgesetzt. Die Käufer verzichten immer häufiger auf Beratung, weil sie sich an den Regalen lieber selbst orientieren möchten. Damit schrumpft die „kulturpolitische Verantwortung“ zur kaufmännischen Verwaltungsfunktion, genau wie in der Bundesrepublik, wo lediglich das Adjektiv „kulturpolitisch“ durch das neutralere Adjektiv „geistige“ zu ersetzen wäre, um das gleiche auszudrücken. In der Praxis kommt die Kundenberatung vielfach zu kurz; auch da, wo sie verlangt wird. Einer sinkenden Zahl von Buchhändlern stehen ein wachsender Stapel von Neuerscheinungen und immer mehr Leser gegenüber. Allerdings ist die Zahl der Neuerscheinungen in der DDR insgesamt erheblich geringer als die Springflut neuer Titel in der Bundesrepublik oder in Österreich. Deshalb besteht für die mitteldeutschen Sortimenter nicht die Gefahr, daß neue Romane in den Regalen stehen bleiben. In einem Punkt sind die DDR-Buchhändler sogar voraus. Sie kennen die Leserwünsche besser: Im Hinblick auf die wachsende Selbstbedienung verlangen sie von den Verlagen statt Bücher mit traditionellem Leineneinband noch viel mehr Taschenbücher als bisher.

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