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„Wir wollen wieder Ketzer sein!"

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Es gibt keinen Protestantismus ohne reformatorische Lust. Denn es ist einfach eine Freude, ein Ketzer zu sein, ein Ketzer, der sich vom Wort Gottes ernährt.

Die evangelischen Kirchen sollen ihre Mitglieder endlich wieder zu Ketzern erziehen, zum herrlichen, reformatorischen Rabaukentum. Evangelische PfarrerAnnen müssen endlich wieder so predigen, daß sogar alte Damen wieder die Ketzerlust in sich entdecken. Diese reformatorische Lust, dieses fröhliche Ketzertum ist es doch, was den Leuten an Luther gefällt, sie fasziniert.

Der Thesenanschlag zum Beispiel - egal, ob er jetzt nur eine Legende ist oder nicht -, auf jeden Fall ist er eine mobilisierende Geschichte. Und wer formuliert heute Sätze, die ein ganzes Land umkrempeln? Und die ungeheure Vitalität seiner Sprache, seines Humors. Die deutsche Sprache hat sich durch Luther weiterentwickelt. Und wer will heute so reden und schreiben wie eine evangelische Kirche?

Und nicht zuletzt seine Heirat: „Der entlaufene Mönch heiratet die entlaufene Nonne!" hat die zeitgenössische Karikatur gehöhnt. Was für eine Heirat müßte man heute anstellen, um einen ähnlichen Wirbel zu erregen wie Luther?

Diese reformatorische Lust, dieses fröhliche Ketzertum ist es doch, was den Leuten an Zwingli gefallt, sie fasziniert. Das Wurstessen von Zwingiis Freunden 1522 in der Buchdruk-kerei Froschauer in Zürich, also ein offizieller Bruch der gesetzlich verankerten Fastenordnung, hat schließlich zu Zwingiis erster, großer reformatorischer Schrift geführt. Und was für ein „Happening" müßte man heute machen?

Zwingli hat erreicht, daß das Söldnerwesen abgeschafft wird und hat damit die ganze Schweizer Wirtschaft auf den Kopf gestellt. Und heute? Spendensammlung oder Schuldentilgung der Dritten Welt; den Wohnungsspekulanten, die Ausländer ausbeuten, das Handwerk legen?

Diese reformatorische Lust, dies fröhliche Ketzertum ist es doch, was den Leuten an Calvin gefällt. Er hat theologisch über die Wirtschaft nachgedacht und als Aufgabenbereich für die Christen wiederentdeckt. Er ist einer der Väter der europäischen Demokratie und des Widerstandsrechts. Was dürfen Gesellschaft, Demokratie und Ökumene heute von den Protestanten erwarten?

Das Ketzerbewußtsein lebt, das Nachdenken der XI. Evangelischen Generalsynode hat sich gelohnt.

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