Unserer Gegenwart scheinen Sinn fürs Melodische und Mut, sich dazu zu bekennen, weitgehend abhanden gekommen zu sein. Wenn ein hochbegabter Komponist von der Sensibilität eines György Ligeti eines seiner letzten Stücke „Melodien“ betitelt hat, dann schwingt in solch programmatischer Erklärung das Bekenntnis mit, einem Phantom nachzulaufen, das nur noch in Variationen zu erhaschen ist, als Vexierbild längst vergangener Zeiten oder als traumhafte Erinnerung an die Kindheit. Wer sich heute noch schlicht gibt und verständlich macht, erregt leicht den Mißmut der Fachleute und Kollegen
Uber das „Musikprotokoll“ des Steirischen Herbstes wird man ernsthaft nachdenken müssen. Es ist heuer, trotz des Weltmusikfestes der IGNM als besonderem Anlaß (und ungeachtet der Mitarbeit des Institutes für Wertungsforschung der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz), eher als eine Pleite zu bezeichnen. Die Quantität der Veranstaltungen vermag deren geringe Qualität keineswegs wettzumachen.Der Programmierung im großen (und ihren vielen Fehlanzeigen) entspricht leider allzuoft die Ausführung im kleinen. Dennoch wird das eher betrübliche Fest fast zur Gänze von
Zwar ist dem Grazer Bürgermeister nicht beizupflichten, wenn er meint, 70 Veranstaltungen seien für den Zeitraum von drei Wochen zuviel, weil kein Mensch alle Ereignisse wahrnehmen könne; ganz im Gegenteil ist dem Grazer Bürgermeister zu attestieren, daß diese seine Äußerung ihn zum permanenten Nicht-Festival-Besucher stempelt. Hingegen läßt sich kaum leugnen, daß in das „Musikprotokoll“ des „Steirischen Herbstes“ immer mehr Fragwürdiges, am aktuellen Stand der Dinge Vorbeiziehendes hineingeschmuggelt wird. Und dies erscheint weit ärgerlicher als des Bürgermeisters Überlegung, wie man denn in einem Anzug zu gleicher Zeit auf zehn Hochzeiten tanzen könne. Vom Selektieren hat man in der Grazer Gemeindestube wohl noch nie etwas gehört…
Als Herbert von Karajan vor genau zehn Jahren Gefallen an Stockhausens musikalischer Experimentierküche fand, gab es im Mozarteum ein Kammerkonzert von Mitgliedern des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Pierre Boulez mit Werken von Karlheinz Stockhausen, Anton von Webern und Boulez. Der Maestro selbst saß neben Mitropoulos in der Mozarteumsloge und gab sich attraktiv interessiert. — Dabei blieb es denn auch. In den nachfolgenden Jahren, in denen die bislang übliche Uraufführung einer Oper ebenfalls unter die Räder der Konvention geriet, bedeuteten Orchesterwerke von Stra-winsky, Bartök, Schostakowitsch den Gipfel zeitgenössischer Erkenntnisse, schließt man eine elektronische Ballettmusik von Badings für das Amsterdamer Ensemble aus — oder Milko Kelemens „Spiegel“-Musik tür. die Agramer Tanztruppe ein.
Salzburgs Sommerfestival 1970 war noch ganz jung, da traf es die Nachricht vom Tode George Szells, eines Dirigenten, von dem man mit Gewißheit eine exemplarische Interpretation von Beethovens IX. Symphonie hatte erwarten dürfen. Daß Rafael Kubelik sich bereit erklärte, dieses Konzert zu übernehmen, stimmte zwar zufrieden, weniger tat dies jedoch die zweite Hiobsbotschaft, nämlich jene von einer Erkrankung Kubeliks nach seinem ersten, wohlgelungenen Mozart-Konzert im Mozarteum und die damit verbundene Abgabe seines zweiten planmäßigen Konzertes. Und weil ein Unglück selten allein
Das „Grazer Musikprotokol 1", beim vorjährigen „Steirischen Herbst“ aus der Taufe gehoben, hat bei seiner ersten Wiederkehr nicht nur dank der Vergleichsmöglichkeiten Licht- und Schattenseiten deutlich werden lassen. Und zwar hinsichtlich der Programmierung ebenso wie in bezug auf die Ausführenden. Dem unverkennbaren Niveauanstieg bei der Wahl der Werke, die im Vorjahr doch ein wenig lokalpatriotischen Gefühlen unterworfen zu sein schien, kleinen Verbeugungen vor machtvollen Persönlichkeiten, fiel mehrmals eine von Sorglosigkeit und blindem Vertrauen zeugende, vielleicht auch auf Zeitmangel zurückzuführende Disposition in den Rücken, nämlich die, den ausländischen Ensembles zwar wohl ein Werk von Josef Matthias Hauer zur Aufführung zu empfehlen, ihnen aber ansonsten freie Hand bei der Erstellung der Programme zu lassen. Die Folge davon war häufig lokalpatriotisches Mittelmaß fremdländischer Provenienz (und nicht selten spätromantischer Eintrübung). Man hatte die Katze im Sack gekauft.
Salzburgs letzte Festspielwoche brachte noch zwei Orthesterkonzerte auf den Plan, die beide von den Wiener Philharmonikern musiziert wurden: Das erste der beiden war im Großen Haus Bruckners V. Symphonie gewidmet. Herbert von Karajan gestaltete sie mit dem zumal im Streicherchorus beste Disposition nachweisenden Orchester klar und schlank in Klang und Diktion und schwelgte im Kontrast von fast impressionistischer Durchsichtigkeit zu beinah barbarischer, Bartökscher Härte im Rhythmus. Im ländlerhaften Trio des dritten Satzes wies er nach, daß dessen höfisch-zeremonielle Ausformung wohl
Uber die ersten Mozart-Konzerte der Wiener Philharmoniker im Großen Saal des Mozarteums ist an dieser Stelle schon referiert worden. Vom dritten, dem besten dieser Reihe, wäre zu berichten, daß Karl Böhm es zusammengestellt und geleitet hat. Man kennt und schätzt den Dirigenten seit langem als sorgfältigen Programmgestalter, als Strategen einer wirksamen musikalischen Schlachtordnung.Sie bewährte sich aufs Schönste auch an diesem unkonventionell disponierten Abend schon bei dessen Beginn mit der Serenata notturna in D-Dur (KV 239). Dem duftigen Klang des kleinen Philharmonikerensembles
Wenn ein Musikfestspiel von knapp sechswöchiger Dauer — und als ein Musikfestspiel muß der alljährliche Kunstsommer an der Salzach wohl bezeichnet werden —, wenn also ein est von solcher zeitlicher Dimension und nicht minder beträchtlicher Veranstaltungsdichte auf dem Sektor der Musik nur zwei Premieren offerieren kann, davon eine sogenannte „kleine“ (und oft, wie dies die Vergangenheit lehrte, recht armselige), dann empfiehlt das heutige Sprach(verlust)gefühl ein bestimmtes Wort beziehungsweise dessen scherzhafte Verwandlung: Aus dem Festival wird ein Resti-val. Nicht unbedingt ist damit, wie beim Sommerschlußverkauf, die Gefahr einer Qualitätseinbuße verbunden. Der Gast, der, aus welcher Gegend immer er in die Mozart-Stadt kommt, kann hier Jean-Pierre Ponnelles mustergültig gescheite, weil nach der Partitur inszenierte Aufführung des Rossinischen „Barbiers von Sevilla“ bewundern, eine Regieleistung, deren Resonanz bei Publikum und Presse dem jungen Mann die Einladung für die heurige Salzburger „Cosi-fan-tutte“-Premiere gebracht hat. (Über sie wurde an dieser Stelle schon berichtet.)
Das heurige Osterfestspiel Herbert von Karajans hat unter der Leitung des vieldiskutierten Maestro, nach der „Siegfried“-Premiere ein Orchesterkonzert des Berliner Philharmonischen Orchesters gebracht. Das Publikum, weithergereist aus nicht nur deutschen Landen und gar mancherlei Gesellschaftsschichten, begrüßte die Berliner Musiker bei ihrem Eintritt mit stürmischem Applaus — Herr, von Karajan hat es sehr wohl verstanden, sein Orchester an der Salzach heimisch zu machen, wozu ihm schon vor Jahren die sommerlichen Festspiele legitimen Anlaß geboten hatten. Daß die Maestri aus Berlin — und diesen Titel darf man jedem von ihnen zubilligen — den Vertrauensvorschuß, den solche Berufung sintemalen in dieser Stadt darstellt, rasch einlösen, rechtfertigen konnten,'hat auch dem Renommee Salzburgs Gewinn gebracht. Zudem mag sich unschwer einer finden, der da sagt, dem Österreicher mangle es an Weltoffenheit. In Dingen der Kunst sind wir ■— das Übel ist alt und eher unausrottbar — bescheidener als nötig.
Selbst professionelle Konzertbesucher, die an neun Abenden 37 Werke zu prüfen hatten, darunter neun in Uraufführungen, zwei in europäischen, eine in deutschsprachiger und 16 in österreichischen Erstaufführungen — selbst die geplagten Rezensenten hatten am Ende in summa Eindrücke empfangen, die sie des Lebens und ihres Berufes durchaus froh sein ließen. Nicht alle Tage und nicht überall findet der Musikfreund solche Chancen vor, sich zu informieren; vergleichen, messen und ermessen zu können, wohin die Musik unserer Zeit sich dreht und wendet, welche Kapriolen sie schlägt, in welche