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Gar nicht puritanisch

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Unserer Gegenwart scheinen Sinn fürs Melodische und Mut, sich dazu zu bekennen, weitgehend abhanden gekommen zu sein. Wenn ein hochbegabter Komponist von der Sensibilität eines György Ligeti eines seiner letzten Stücke „Melodien“ betitelt hat, dann schwingt in solch programmatischer Erklärung das Bekenntnis mit, einem Phantom nachzulaufen, das nur noch in Variationen zu erhaschen ist, als Vexierbild längst vergangener Zeiten oder als traumhafte Erinnerung an die Kindheit. Wer sich heute noch schlicht gibt und verständlich macht, erregt leicht den Mißmut der Fachleute und Kollegen und erntet zudem das Mißtrauen der Konsumenten, die endlich einmal wissen wollen, was sie wissen sollen. Denn vor lauter Orientierung und wohlmeinenden Wegweisern gehen sie langsam, aber sicher im Kreis.

Daß die Sehnsucht nach einem Klangbad in Melodik nicht kleiner geworden ist, sondern, ganz im Gegenteil, begehrt wie alles beinah' Verbotene, kann niemand leugnen. Geschickte Bedarfsdecker haben in den letzten Jahren ihr bemerkenswertes Existenzmaximum um ein Vielfaches vermehrt, indem sie dem Massengeschmack den ihnen willkommenen Trend gaben und der Verschnulzung Tür und Tor öffneten.

Erstaunlicherweise gingen Ohr und Seele daran nicht zugrunde — ja, kluge Leute spulten das Band auf die E-Musik um, und siehe da (und höre hin): das Experiment glückte. Die mit ungeschulter Stimme plärrenden Heulsusen beiderlei Geschlechts rückten in den Hintergrund (wie ihre Hinterhofkomponisten), die Nachfrage, geschulte Stimmen bei der Wiedergabe ebensolcher Tondichter zu hören, stieg in aller Welt. Der Platteneinzelhandel bot neben Pop und Beat auch Verdi, Puccini, Rossini, Donizetti, Bellini an, verdiente dabei mehr und machte sich verdient.

Ausgelöst werden solche Überlegungen durch das ohrenbetäubende Begeisterungsecho, mit dem das Grazer Publikum die Premiere von Bellinis „Puritani“ im Opernhaus aufgenommen hat. Das Bellini-Opus, erstmals in der steirischen Landeshauptstadt gegeben, und zwar in italienischer Sprache, legte davon Zeugnis ab, wie sehr dem Komponisten die Gabe der „reinen Melodie“ eignete. Von allen italienischen Tondichtern des 19. Jahrhunderts war er der erste, der sich der Poesie des Textes unterwarf und die Handlung musikalisch vertiefte. Nie gerann ihm echtes Gefühl zu falscher Sentimentalität.

Selbstredend ist damit auch schon einiges über die Aufführung in Graz gesagt, zumindest über ihren musikalischen Teil, der unter der Leitung des Bühne und Orchester sicher führenden Dirigenten Argeo Quadri präzise, leuchtkräftig und differenziert verwirklicht worden ist. Das Philharmonische Orchester hatte daran ebenso verdienstvoll Anteil wie die von Ernst Rosenberger einstudierten Chöre.

Bei der Solistenbesetzung riskierte man erstmals eine Stagione-ähnliche Mixtur von „hauseigenen“ Sängern mit Kräften der Wiener Volksoper und drei echtbürtigen Italienern, die das gut gewählte Ensemble effektvoll krönten: Mileno Dal Piva und Vittorio Terranova vor allem gehörten zu den Pluspunkten, mit gewissem Abstand auch die Herren Stajn, O'Leary und Radovan. Inszeniert hatte, im Dekor von Wolfram Skalicki und Ronny Reiter, überaus unauffällig Andre Diehl.

Das Publikum hatte nicht die geringste Hemmung, seiner Freude am Wohlklang freien Lauf zu lassen. Intendant Dr. Nemeth eröffnete jedenfalls seine erste Saison mit einem Haupttreffer.

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