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Chansons und Antiopern

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Zwar ist dem Grazer Bürgermeister nicht beizupflichten, wenn er meint, 70 Veranstaltungen seien für den Zeitraum von drei Wochen zuviel, weil kein Mensch alle Ereignisse wahrnehmen könne; ganz im Gegenteil ist dem Grazer Bürgermeister zu attestieren, daß diese seine Äußerung ihn zum permanenten Nicht-Festival-Besucher stempelt. Hingegen läßt sich kaum leugnen, daß in das „Musikprotokoll“ des „Steirischen Herbstes“ immer mehr Fragwürdiges, am aktuellen Stand der Dinge Vorbeiziehendes hineingeschmuggelt wird. Und dies erscheint weit ärgerlicher als des Bürgermeisters Überlegung, wie man denn in einem Anzug zu gleicher Zeit auf zehn Hochzeiten tanzen könne. Vom Selektieren hat man in der Grazer Gemeindestube wohl noch nie etwas gehört…

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Zwar ist dem Grazer Bürgermeister nicht beizupflichten, wenn er meint, 70 Veranstaltungen seien für den Zeitraum von drei Wochen zuviel, weil kein Mensch alle Ereignisse wahrnehmen könne; ganz im Gegenteil ist dem Grazer Bürgermeister zu attestieren, daß diese seine Äußerung ihn zum permanenten Nicht-Festival-Besucher stempelt. Hingegen läßt sich kaum leugnen, daß in das „Musikprotokoll“ des „Steirischen Herbstes“ immer mehr Fragwürdiges, am aktuellen Stand der Dinge Vorbeiziehendes hineingeschmuggelt wird. Und dies erscheint weit ärgerlicher als des Bürgermeisters Überlegung, wie man denn in einem Anzug zu gleicher Zeit auf zehn Hochzeiten tanzen könne. Vom Selektieren hat man in der Grazer Gemeindestube wohl noch nie etwas gehört…

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Doch auf, zum „Steirischen Herbst“, in Kurzfassungen, um nichts auslassen zu müssen. Die Note „eins" verdient uneingeschränkt das Chansonfestival, das dank Dr. Peter Loschaks Initiative der unwilligen Gemeinde in ihr „Orpheum“ und damit in den Erfolgsschoß gefallen 1st. „Les Minestriers" und „Les Frėres Jacques“ kamen wie Areski et Hige- lin und Claude Nougaro aus Paris, die Cathy Berberian und The Patterson Singers aus der Bundesrepublik beziehungsweise den USA, der Gitarrist Atahualpa Yupanqui aus Argentinien, Andrė Heller aus Wien und die unvergleichliche Brecht-Weill-Interpretin Gisela May aus der DDR.

Spitzenklasse reihte sich an Spitzenklasse, das „Orpheum“ war vom Nachmittag an bis nach Mitternacht fünf Tage lang bumvoll, das vorwiegend jugendliche Publikum kam und ging und kam wieder, ganz nach Belieben — eine unkonventionelle Veranstaltung, ein Chanson-Open- House von entwaffnend legerer Atmosphäre, gemütlich, informativ, spannend und — eben durch gewährte Freiheit — von echter Großstadt-Atmosphäre. Graz selbst, seine Vereinigten Bühnen, stellte mit der hochmusikalischen Schauspielerin Marianne Kopatz eine facettenreiche Diseuse bei, eine Chanson- niėre, der man im Wiener Mozart- Saal eine Start-Chance geben sollte.

Weg vom Chanson und hin zur „Anti-Oper“: Roman Haubenstock- Ramati hat solche geschrieben, erst unfreiwllig, mit dem in West-Berlin uraufgeführten kafkanischen „Amerika“, nunmehr gezielt auf Becketts „Endspiel“ hin, das hier „Spiel“ heißt, musikalisch in typographischer Notation fixiert ist und, laut Programmheft, „jedes Wort, jede Silbe auf ihren Sinngehalt nachprüft“. Mag sein, va bene. Schlechter freilich sieht es mit den „expressiven Ausbrüchen“ aus, und daß der „ma nierierte Halbgesang“ zusammen mit der Sprechstimme den Versuch unternimmt, „das Geheimnis der Sprache Becketts zu ergründen“, muß einem aber schon sehr eingeredet werden, zumal Schlagzeugbatterien, präparierte Instrumente, Glasplatten, Stahlspiralen, Kugeln, Gummibälle usw. die Klangempfindlichkeit des Zuhörers keineswegs (wie beabsichtigt) schärfen, sondern abstumpfen.

Schade, daß Haubenstock-Ramati die Anti-Oper nicht aus der Gattung Oper destilliert, ohne parodistische Elemente, versteht sich, doch durch Ad-Absurdum-Führen ihrer immanenten Fragwürdigkeit. Hiefür genügt nicht Beckett, am allerwenigsten dann, wenn ein Ensemble Wie Wiesbaden zwar über zwei gute Protagonisten gebietet, im übrigen jedoch auch im Szenischen bitteren Dilettantismus abliefert. Die Köflacher, die den Abend zugeteilt bekamen, hätten ein besseres Schicksal verdient.

Bleibt noch das „Musikprotokoll" zu erwähnen, das eine anregende „Hans-Eisler-Retrospektive“ zum Mittelpunkt macht. Darüber nach dem zweiten Abend mehr.

• Ein vermutlich echter Greco ist vergangene Woche im Verlauf von Verkaufsverhandlungen in der nordspanischen Hafenstadt Bilbao aufgetaucht. Ein Madrider Kunsthändler hatte das 44 X 41 Zentimeter große Gemälde — Franz von Assisi, dem Christus erscheint — der „Gaceta del Norte“ zufolge aus Madrider Adelsbesitz erworben und seine Echtheit durch Gutachten erhärten lassen.

• Die Malerin Beatrice Zweig, jahrzehntelange Lebensgefährtin Arnold Zweigs, ist im Alter von 79 Jahren in Ost-Berlin gestorben.

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