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Albaniens düsterster Brauch kehrt wieder zurück.

Ein junger Mann wird von seinem Vater gedrängt, endlich den Tod seines Bruders zu rächen. Er vollbringt die schreckliche Tat, und nach einem Jahrhunderte alten Gesetz bleiben ihm noch 30 sichere Tage in Freiheit. Dann kommt der große Schnitt: Entweder verbirgt er sich in einem Fluchtturm, um nur noch in Untätigkeit zu vegetieren - oder er riskiert bei jedem Schritt außer Haus, dass ihn einer aus der Familie des Ermordeten erschießt: Blutrache.

Der 1936 geborene bekannteste lebende albanische Autor Ismail Kadare, der seit zehn Jahren in Paris wohnt, hat seinen Roman "Der zerrissene April" für eine französische Werkausgabe neu bearbeitet. Der Ammann Verlag in Zürich ließ das 1989 bei Residenz erschienene Buch neu übersetzen und stellt es seinerseits an den Anfang einer deutschen Werkausgabe. Albanien: Uraltes Kulturland mit einer unzugänglichen Bergwelt im Norden. Den Türken, die im 15. Jahrhundert die albanisch besiedelten Gebiete des Balkans eroberten, gelang es nicht, die Bräuche der katholischen Bevölkerung auszurotten: ihr höchst differenziertes, bis ins 19. Jahrhundert nur mündlich weitergegebenes Gewohnheitsrecht, der Kanun (vom spätlateinischen canon) war stärker.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Kommunisten massiv gegen die Blutrache vor. Doch seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist sie wieder aufgelebt, wobei die Grenzen zur gewöhnlichen Kriminalität immer mehr verschwimmen. So viel zum Verständnis des historischen Hintergrunds eines tragischen Romans. Kadare gibt einen einzigen konkreten Hinweis auf die Zeit, in der er das Geschehen ansiedelt. Der junge Mann hört ein fernes Donnergrollen: "Ein einsames Flugzeug zog langsam seine Bahn durch die Wolken. Wohl hatte er davon gehört, dass ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Tirana in ein fremdes Land irgend- wo in Europa einmal in der Woche den Nachbarkreis überquerte, doch gesehen hatte er es noch nie." Also zwanzigstes Jahrhundert.

Wie lebt ein Mensch unter dem Gesetz des Todes? Das ist der berührende Teil der Handlung. Der junge Mann weiß: Da er den Mord an einem 17. März begangen hat, ist der April "zerrissen". Er möchte leben, nachdem er eine Fremde gesehen hat, eine Städterin, deren Blick ihn nicht mehr loslässt. Sein Leben hat seither Tiefe und eine nie gekannte Süße.

Der zweite Handlungsstrang ist informativ, aufklärend. Ein Schriftsteller aus der Hauptstadt, dessen literarische Fundgrube der Kanun ist, nimmt seine junge Frau auf der Hochzeitsreise ins Hochland mit, das Land des Todes. Dort sieht sie den jungen Todgeweihten und verfällt ihm mit einem einzigen Tausch der Blicke. Dem Schriftsteller gibt Kadare Gelegenheit, das Phänomen der Blutrache historisch darzulegen. An solchen Stellen bekommt der Roman traktathafte Züge. Einerseits ist der Schriftsteller magisch angezogen von den archaischen Bräuchen, die die Blutrache bis ins Kleinste regeln. Ein Anlass, der hundert Jahre zurückliegen kann, rottet allmählich ganze Familien aus. Andererseits sieht der gebildete Mann - ein Selbstbild Kadares? - die Auswüchse des Kanun. Sie bestehen darin, dass die oberste Instanz für die Einhaltung der absurden Gesetze, früher ein Fürst, bei jedem Mord ein Blutgeld verlangt: Mord als kapitalistische Geldquelle für den Machthaber. Der Schriftsteller gesteht sich auch ein, dass ihm diese albanische Besonderheit Stoff für erfolgreiche Bücher liefert. Die Rechnung muss er damit bezahlen, dass sich seine Frau ihm auf der gespenstischen Hochzeitsreise völlig entfremdet.

Sie hat nicht die exotische, sondern die existenzielle Seite der Blutrache in den Augen des jungen Todgeweihten erfasst. Der Roman schlägt in einen düsteren Bann. Doch die kulturgeschichtlich lehrhaften Abschnitte lassen den Eindruck aufkommen, Kadare habe sich nicht zwischen wissenschaftlichem Interesse und der Lust am Fabulieren entscheiden können.

DER ZERRISSENE APRIL Kadare

Roman von Ismail Kadare

Ammann Verlag, Zürich 2001

240 Seiten, Ln., e 21,15/öS 291.-

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