Die Blindheit als Hauptfigur

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Regisseur Fernando Meirelles steht in der "Stadt der Blinden" vor der Herausforderung, die Blindheit einer Gesellschaft in Bilder umzusetzen. Entgegen der Romanvorlage von José Saramago behandelt er aber kaum das "Nichtsehen" im übertragenen Sinn.

Es beginnt in vertrauter Umgebung, einer x-beliebigen Großstadt, in der alle geschäftig aneinander vorbeieilen, ohne einander zu sehen. Verkehrslärm, Ampellichter: alles in schnellen Schnitten. Dann plötzlich Stillstand auf der mehrspurigen Straße, denn ein Auto fährt nicht mehr. Die Kamera bringt den Fahrer ins Bild: Er reibt sich die Augen, ist plötzlich erblindet.

Der Augenarzt der "Stadt der Blinden" kann sich das Phänomen überhaupt nicht erklären. Agnosie sei das vielleicht, so der ratlose Arzt abends zu Hause zu seiner Frau: die Unfähigkeit, vertraute Objekte zu erkennen. Und seine kluge Frau fragt ihn, ob es nicht nur sprachlich einen Zusammenhang mit Agnostizismus gäbe: mit Ignoranz, fehlendem Glauben …

Diese kurze philosophische Unterredung deutet nicht nur bereits an, dass nicht der studierte Mediziner, sondern die Frau es sein wird, die "sieht". Sie rührt vor allem die Problematik an, die der dem Film zugrundeliegende Roman von José Saramago verfolgt: das Blindwerden einer Gesellschaft.

Dabei bleibt es leider. Was in Fernando Meirelles Verfilmung folgt, ist der Fokus auf das Verhalten von Menschen, die unter extremen Bedingungen vom Menschen zum Wolf werden, und der Fokus auf das Thema Nichtsehen, und zwar nicht im übertragenen Sinn. Eine Aufgabe, die für einen Filmemacher schwer genug ist: Wie setzt man Blindheit als Bild um? Mehr noch: Wie dreht man einen Film, in dem die Hauptfigur die Blindheit ist? Und mit welchen Kameraeinstellungen wird man der zweiten Hauptfigur, der Frau des Arztes, gerecht, der einzigen Figur, die sehen kann?

Wegsperren als Lösung

Denn auch der Arzt selbst erblindet und wird wie alle anderen in einem Lager interniert - die medizinisch nicht diagnostizierbare Erkrankung scheint ansteckend zu sein und wird daher wie eine Seuche gefürchtet. Die Frau des Arztes, beeindruckend gespielt von Julianne Moore, stellt sich blind, um ihrem Mann hilfreich zur Seite stehen zu können. Mit dieser Entscheidung tritt sie - ohne es freilich zu wissen - freiwillig in die Hölle ein und übernimmt zugleich eine Verantwortung, derer - und auch deren Größe und Last - sie sich erst nach und nach bewusst wird.

Es folgen grauenhafte, ab und zu auch berührende Szenen aus dem Leben der Weggesperrten, die ohne jede Betreuung gänzlich auf sich geworfen sind und sich ihren Weg durch die Finsternis des Lagers bahnen müssen. Man kennt dieses Sujet: Alles, was die Welt im Großen prägt, spielt sich auch auf kleinstem Raum und da besonders deutlich ab. Wo es nur mehr darum geht, genug zu essen zu bekommen, verschwindet die Moral. Bald gibt es die ersten Toten …

Spiel mit Hell und Dunkel

Dieser Film ist nicht nur wegen der grausamen Thematik sehr verstörend, sondern auch wegen der beeindruckenden Bilder. Sie reißen den Zuschauer mit hinein in diese höllische Situation des Nichtsehenkönnens und Ausgeliefertseins. Regisseur Fernando Meirelles setzt vieles ins Dunkel, aber auch ins weiße Licht, das die Blinden sehen. Oft sind die Darsteller nur als Schemen erkennbar, Charaktere haben es schwer herauszutreten. Ständig stößt man sich an dem Versuch zu sehen, zu verstehen.

Vergleicht man aber den Film mit der Literaturvorlage, dem Roman des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, stellt man fest, dass die politische Bedeutung droht verloren zu gehen sowie der kritische Blick, den Saramago stets auf Sprache wirft, die ja mehr ist als ein Instrument des Erkennens. Politische Parolen tauchen nur wie nebenbei als fernes Geräusch auf den Fernsehschirmen auf.

Zu wenig Tiefgang

Dass die "Stadt der Blinden", dass das Erblinden fast aller ein mahnendes Bild für die Verfasstheit einer Gesellschaft sein kann, kommt zu wenig zum Ausdruck. Hauptsächlich ist man damit beschäftigt, mit den zweifellos großartigen Schauspielern durchs Dunkel des Lagers zu stolpern. Man versteht, warum sich Saramago lange geweigert hat, die Filmrechte zu verkaufen. Dieser Mangel ist kein Grund, den Film nicht zu sehen, aber auf jeden Fall ein Grund, Saramagos Romane zu lesen.

Die Stadt der Blinden (Blindness)

CDN/BRA/J 2008. Regie: Fernando Meirelles. Mit Julianne Moore, Mark Ruffalo, Danny Glover, Gaël García

Bernal. Verleih: Filmladen. 120 Min.

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