Die "Regenwälder der Meere" sterben

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Das weltweite Korallensterben nimmt alarmierende Ausmaße an. Eines der artenreichsten Ökosysteme der Welt schwebt in akuter Gefahr.

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Das weltweite Korallensterben nimmt alarmierende Ausmaße an. Eines der artenreichsten Ökosysteme der Welt schwebt in akuter Gefahr.

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Wir erleben ein globales Massensterben. So etwas haben wir noch nie gesehen", warnt Thomas J. Goreau, Präsident der "Global Coral Reef Alliance", der Welt-Korallenriff-Vereinigung im US-Bundesstaat New York. Innerhalb eines Jahres seien weltweit zehn Prozent jener winzigen Polypen abgestorben, aus denen riffbildende Korallen bestehen, meldet das "Institute for Environment and Sustainable Development" (HKUST) mit Sitz in Hongkong. Eine Katastrophe "unvorstellbaren Ausmaßes" (Olof Linden vom internationalen Verband "Global Coral Reef Monitoring") bahnt sich an: Die "Regenwälder der Meere", wie Korallenriffe von Wissenschaftlern auch genannt werden, sind vom Untergang bedroht.

Korallenriffe gibt es in etwa 100 Ländern mit Küsten an tropischen Meeren. Sie sind wertvolle natürliche Ressourcen, sie schützen Küsten vor Erosion, und die dort lebenden Fische ernähren Millionen von Menschen. Korallenriffe gehören zu den artenreichsten Ökosystemen der Welt und sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Nahrungskette. Obwohl Korallenriffe weltweit nur zwei Promille des Meeresbodens ausmachen, leben in ihnen über ein Viertel aller Meeresfische. Vor allem jungen, kleinen Fischen dienen die Riffe als Schutz vor großen Räubern und als Nahrungsquelle. Die Eier und Larven, die von den Korallen in rauhen Mengen produziert werden, sind eine nie versiegende Eiweißquelle. Denn obwohl die farbenprächtigen Lebewesen wie Pflanzen aussehen und sich auch nach dem Sonnenlicht ausrichten, handelt es sich bei Korallen um Tiere.

Tausende Jahre alt Eine Koralle besteht aus vielen winzigen Polypen, die sich zu einer Kolonie zusammengeschlossen haben. Jeder der kleinen Polypen lagert Kalk an seinem Fuß ab, woraus mit der Zeit bizarre Gebilde entstehen: Manche Korallen erinnern an urtümliche Bäume, andere an riesige Fächer, andere wiederum an menschliche Gehirne. Massive Korallen wachsen einen Zentimeter pro Jahr, filigran verästelte bis zu 30 Zentimeter. Theoretisch können Korallen Tausende von Jahren alt werden, ein Alter von ein paar hundert Jahren ist keine Seltenheit. Ein Korallenriff als Ganzes wächst um einige Millimeter pro Jahr. Viele Südsee-Inseln sind aus jahrmillionenlanger Kalkablagerung durch Korallen entstanden. So groß Korallenstöcke auch sein mögen - nur die äußerste, einige Millimeter dicke Schicht ist lebendig; eine Koralle ist also ein dünnes Häutchen auf einem Kalkskelett.

Korallen reagieren äußerst empfindlich auf Umweltveränderungen. Eine Verschmutzung des Wassers durch Nährstoffe führt zu Explosion von Krankheiten, ein Anstieg der Wassertemperatur führt zum sogenannten Bleichen. Jedes Souvenir, das ein Sporttaucher aus dem Riff bricht, reißt eine Wunde in das sensible Korallenriff, jeder ausgeworfene Anker zertrümmert die empfindlichen Gebilde. So mancher Fischer zündet Dynamit im Wasser, um auch gut im Riff versteckte Fische und Langusten zu erlegen, andere schütten ein betäubendes Gift ins Meer, um tropische Aquariumfische sammeln zu können - für Korallen bedeutet dies oft den Tod.

"Ich bin entsetzt über den Zustand der Korallenriffe in der Karibik", sagt der Wiener Meeresbiologe Arnfried Antonius. Auf den von ihm im Vorjahr untersuchten Riffen in Florida und Zentralamerika sind die Hälfte der Korallen tot, ein Drittel der überlebenden Tiere schwer krank. Zum Entsetzen von Antonius betrifft dies auch Riffe, die weitab von Städten und Industriegebieten liegen. "In der Karibik ist anscheinend die Qualität des offenen Wassers schlechter geworden", erklärt er die massive Ausbreitung von Korallenkrankheiten in dieser Region.

Antonius ist der Pionier der Korallenpathologie. 1972 entdeckte er vor der Küste von Belize das erste Korallenleiden, die Schwarzbandkrankheit. Dabei werden verletzte Korallen von Blaualgen befallen, die normalerweise an den Füßen der Korallen nisten, ohne Schaden anzurichten. Landwirtschaftliche Düngemittel, die durch Flüsse ins Meer gelangen, haben in der Karibik mittlerweile das Gleichgewicht zwischen Korallen und Blaualgen durcheinandergebracht: Die durch den Dünger wohlgenährten Blaualgen nutzen die kleinste Wunde einer Koralle und befallen sogar solche Tiere, die normalerweise immun gegen Blaualgen sind.

Wuchernde Algen Die häufigste Korallenkrankheit ist jedoch die Weißbandkrankheit. Aus noch ungeklärter Ursache sterben Teile der Koralle ab, zurück bleibt das leere Kalkskelett. Unter normalen Umständen siedeln sich auf den Überresten dahingeschiedener Korallen neue Polypen an, doch im nährstoffreichen Wasser wird der Kalk in Blitzeseile von Algen überwuchert. Muscheln und Würmer bohren sich in den Kalk, die Erosion setzt ein und irgendwann bricht das tote Riff in sich zusammen.

Während in der Karibik die Korallen vor allem von Krankheiten dahingerafft werden, gehen im indo-pazifischen Bereich viele an der Erwärmung des Meeres zugrunde. 1998 sind im indischen und im pazifischen Ozean sogenannte Hot Spots in noch nie dagewesener Zahl aufgetreten. Ob vor Sri Lanka, vor den Seychellen oder am Großen Barrier-Riff vor Australien - diese per Satellit beobachtbaren fleckenförmigen Regionen erhöhter Meerestemperatur haben dazu geführt, daß zahlreiche Riffe plötzlich ihre Farbenpracht eingebüßt und bleich geworden sind. Stellenweise ist die Meerestemperatur um fünf Grad angestiegen.

Korallen leben in Symbiose mit einzelligen Algen, deren Pigmente den Korallen ihre leuchtenden Farben verleihen. Die Ausscheidungen der Korallen dient den "Zooxanthellen" als Dünger, die Einzeller wiederum versorgen die Korallenpolypen mit Sauerstoff und Stärke. Korallen sind äußerst empfindlich gegenüber Temperaturschwankungen. Überschreitet die Wassertemperatur die Grenze von 32 Grad, so stoßen sie die Zooxanthellen bis auf ein paar wenige ab - und werden dadurch weiß. Denn der lebende Teil der Koralle, das dünne Häutchen, ist ohne die Pigmente der Algen durchsichtig, das dahinterliegende weiße Kalkskelett wird sichtbar.

"Ein paar Monate können die Korallen ohne ihre Symbionten überleben", sagt Arnfried Antonius. Wenn die Wassertemperatur wieder aufs Normalmaß fällt, regeneriert sich die Zooxanthellenpopulation und nach ein paar Wochen gewinnt die Koralle ihre Farbenpracht zurück. Bessern sich die Verhältnisse nicht, so stirbt die Koralle. Im besten Fall siedeln sich Korallenlarven auf dem Kalkskelett an - wenn es nicht von Algen überwuchert wird. "Das globale Ausmaß des Korallenbleichens und -absterbens ist bisher nicht dagewesen", stellt das HKUST in seinem jüngsten Bericht fest.

Schon laufen die ersten Versuche, dem Sterben der "Regenwälder der Ozeane" durch Aufforstung entgegenzuwirken: Lebendige Korallenbruchstücke werden mit Draht-schlingen an Zementblöcken befestigt, wo sie binnen weniger Wochen eine Bodenplatte ausbilden. Mit diesen Setzlingen können zerstörte Riffe wieder aufgeforstet werden oder neue Riffe angelegt werden: Ein Stahlgitter wird unter Wasser unter schwachen Strom gesetzt. Durch Elektrolyse setzt sich Kalk auf dem Metall ab, darauf können die Setzlinge Fuß fassen. Die Anfangsphase der Riffbildung läßt sich auf diese Weise von mehreren Jahrzehnten auf wenige Jahre verkürzen. "Diese Art von Aufzucht ist nur realistisch für ein Gebiet mit viel Tourismus", gibt Arnfried Antonius zu bedenken, "aber es ist keine geeignete Methode, um dem Riffsterben Einhalt zu gebieten."

Doch dies scheint dringend notwendig. Denn der Tod der Korallenriffe würde für viele Menschen in der Dritten Welt das Versiegen der einzigen Einnahme- und Nahrungsquelle bedeuten, nämlich der Fischerei; manchen Inselstaaten droht im wahrsten Sinne des Wortes der Untergang, wenn kein Riff mehr ihre Küsten vor der Erosion schützt; ein unschätzbares genetisches Reservoir ginge verloren - und nicht zuletzt die nicht in Zahlen meßbare Schönheit der tropischen Korallenriffe.

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