Ein Vexierbild der heutigen Gesellschaft

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Mit einer von Regisseur André Engel ins Russenviertel von New York verlegten, von Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst an der Spitze eines guten Ensembles mit viel Feingefühl und spannend dirigierten "Kátja Kabanová“ begann die Wiener Staatsoper ihren auf mehrere Jahre angelegten neuen Janáˇcek-Zyklus. Ein durchaus gelungener Auftakt.

Unerfüllte Ehe, Seitensprung, freie Liebe, oberflächlich gelebte Tradition, Emanzipation, Offenheit, Vergangenheit, Generationenkonflikt, Eifersucht: Das sind nur einige der Themen, die Leoˇs Janáˇcek in seiner 1921 in Brünn uraufgeführten "Kátja Kabanová“ anspricht. "Es war für mich nötig, eine große, grenzenlose Liebe bei der Komposition dieser Oper zu kennen“, schrieb er 1922 seiner lebenslangen Liebe, Kamilla Stösslová. "Ihr Bild legte ich mir immer auf die Kátja Kabanová, als die ich sie komponierte.“

Die zweite Inspirationsquelle bildete Alexandr Nikolajewitsch Ostrowskis Schauspiel "Das Gewitter“. Janáˇcek gestaltete daraus das Libretto für seine Oper: Aus den fünf Akten formte er drei Akte mit je zwei Szenen, reduzierte die sozialhistorischen Details, legte den Fokus auf die sich nach Liebe sehnende, von ihrem Ehemann Tichon enttäuschte Kátja Kabanová.

Kann denn Liebe Sünde sein?

Kann denn Liebe Sünde sein? Stets schwingt dieser aus einem Chanson von Zarah Leander bekannte Satz mit. Aber auch: Darf man anderen verwehren, was man sich selbst gönnt? Schließlich pflegt Kátjas Schwiegermutter, die gegenüber anderen meist mit brutaler Kälte auftretende Kabanicha, offensichtlich ein Verhältnis mit Dikoj, der seinem Neffen mit ähnlicher Autorität gegenüber tritt. Die Kabanicha weiß dieses Detail ihres Lebens geschickt zu verbergen. Sie erweckt den Eindruck, ganz in der strengen jahrhundertealten Tradition zu leben, geißelt dafür umso mehr ihre Schwiegertochter Kátja wegen des Seitensprungs mit Boris.

Nicht der Ehebruch treibt Kátja in den Tod, sondern dass sie nicht fertig wird, damit gegen einen seit jeher - wenigstens nach außen hin - hoch gehaltenen Moralkodex gehandelt zu haben. Eine Geschichte, die keineswegs im Russland des 19. Jahrhunderts, in der Kleinstadt Kalinow an der Wolga - wie in Janáˇceks Libretto - spielen muss, sondern die sich auch sehr viel später und an einem anderen Ort vorstellen lässt. Deshalb hat Regisseur André Engel die Handlung in die 1950er-Jahre verlegt. In Anlehnung an das ursprüngliche Sujet lässt er sie in dem von Russen dominierten Viertel von New York, in Brooklyn, spielen, harmonisch unterstützt von sehr filmnahen Bildern (Bühne: Nicky Rieti) und Kostümen (Chantal de La Coste), die den hier gezeigten Konflikt zu einem unmittelbaren Vexierbild der heutigen Gesellschaft machen.

Engel präsentiert eine atmosphärisch-dichte Bilderfolge, führt von der stilvoll angedeuteten Skyline New Yorks bis zu einem dunklen Uferambiente, dem er einen skurrilen Auftritt der Kabanicha voranstellt. Begleitet von Sargträgern animiert sie ihre gehasste Schwiegertochter, in den mitgeführten Sarg zu steigen. Sie schlägt dies aus, um sich später in die Fluten zu werfen. Womit die Regie klug die Frage aufwirft, wie frei Kátja bei ihrer Entscheidung war, ob sich tatsächlich von einem Freitod sprechen lässt.

Weniger interessiert zeigte sich Engel an der schauspielerischen Profilierung der einzelnen Protagonisten. Sie kehren zu wenig die Eigenart ihrer Charaktere heraus, bestreiten ihre Auftritte meist mit steifer Gestik. Überhaupt ist diese Produktion mehr durch eine stimmige Ensembleleistung als durch herausragende Individualität bestimmt. Bei Deborah Polaskis Kabanicha vermochten die vokalen Möglichkeiten mit ihrer beeindruckenden Bühnenpräsenz nicht immer Schritt zu halten. Die zwischen subtiler Liebessehnsucht und tiefer Depression changierende Titelpartie ließe sich mit markanteren Akzenten und weniger angestrengt bewältigen, als es die gleichwohl emphatische Janice Watson vorzeigte.

Klaus Florian Vogts tenoralen Schmelz verstrahlender Boris hinterließ den Eindruck, diese Partie noch nicht genügend verinnerlicht zu haben. Routiniert Wolfgang Bankl als Dikoj, zu wenig konturiert Marian Talaba als damit farbloser Tichon. Überzeugend Stephanie Houtzeel als emanzipierte Kabanicha-Pflegetochter Varvara und Norbert Ernst als junger Chemiker Kudrjáˇs.

Makelloses Orchester

Die entscheidende künstlerische Prägung erfuhr diese im tschechischen Original gesungene Premiere durch Franz Welser-Möst. Er führte das makellos musizierende Orchester und den gut vorbereiten Chor mit disziplinierter Energie, konzise die jeweiligen Höhepunkte ansteuernd, souverän durch die komplexe Partitur, die erstmals in ihrer Originalgestalt und damit in der vollen Schärfe ihrer ursprünglichen Diktion zu hören war.

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