Fremdes mit innerem Auge betrachten

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Abseits ausgetretener Touristenpfade ist Julian Schutting unterwegs und webt seine Erfahrungen kontemplativen und reflexiven Reisens zu Text.

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Abseits ausgetretener Touristenpfade ist Julian Schutting unterwegs und webt seine Erfahrungen kontemplativen und reflexiven Reisens zu Text.

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"Schau dir einer das Gefunkel / der güldenen Turmhelme und Kupferdacheln an /und das Zuckerlrosa der wie mit Schablonen zum /Keksausstechen hingestanzten Rekonstruktionen: / historistisch eingefärbelten Übereifer verlangt es, / Historie zu Tode wiederzubeleben!" Ein subversiver Blick auf das junge alte Moskau!

Wenn man mit Julian Schutting literarisch unterwegs ist, dann hat man es ganz bestimmt nicht mit einem herkömmlichen Reiseführer zu tun. Bricht nämlich ein Dichter in die Ferne auf, wird das Kleine zum Großen und das Unscheinbare zum Außergewöhnlichen. In seinen sehr persönlich gehaltenen "Blickrichtungen" führt Schutting den Leser quer durch Europa, sogar bis nach Ägypten oder zu den japanischen Reisfeldern, jedoch den Zugang wählt er abseits ausgetretener Touristenpfade. Er verleitet uns, das Fremde mit dem inneren Auge zu betrachten und sich auf Details, Zusammenhänge, Geschichte und Politik eines Landes, einer Stadt einzulassen und minutiösen Schilderungen Zeit zu schenken.

Schutting eröffnet seine Reiseaufzeichnungen mit einer kritisch ironischen Betrachtung des herkömmlichen Touristen. Schnell findet man sich wieder inmitten pausenloser "Herum-Photographier[erei]" samt "Bilder-Beschönigung", weil man die "Scheinidylle" sucht, die malerischen Blickpunkte neben verschandelter Landschaft. Da ist noch die Verachtung für jene, die "den sogenannten Massentourismus" verabscheuen, aber "all den anderen das mißgönnen, was sie sich selbst gönnen".

Von Schutting kennt man das bildreiche, flirrende Erzählen, das bewusste Verweilen an einem Punkt, um Details bis in ihren Kern hinein auszuloten. Auch hier konfrontiert er den Leser mit der Dichte der Narration und fordert das Sich-Einlassen auf Einzelheiten, weil hinter allem eine Geschichte steckt. In seinen "Blickrichtungen" präsentiert er dem Leser in Prosa, dann wieder in elegischen, weil in freien Versen aufgezeichneten Reisejournalen seinen individuellen Blick auf Fremdes.

Sensibel für Nebenschauplätze

Eines der ersten Reiseprotokolle schildert den Besuch in St. Petersburg-Leningrad im Juli 1998 gerade zur Zeit der Heimholung der Zarenfamilie. "Heimkehrerschicksale ... etliches davon fließt in deine Ergriffenheit ein über die Heimholung der Überreste einer gewaltsam beendeten und ein langes Menschenleben lang geleugneten Epoche, über den guten Willen des heutigen Rußlands, mit einem trüben Kapitel seiner Geschichte Frieden zu machen." Beim Besuch in der Kathedrale schweifen die Gedanken des Betrachtenden ab in das Jahr 1918, vergegenwärtigen sich angesichts der "Totenschädel-Porträtfotografien" die Erschießung der Zarenfamilie und das langsame, brutale und qualvolle Sterben der Töchter, in deren Mieder man "in Brusthöhe Diamanten und Goldschmuck eingenäht" hat, an dem die abgefeuerten Kugeln einst abgeprallt sind.

Eine kurze Visite in Florenz dokumentiert Schuttings sensibles Ohr für Nebenschauplätze auf der Ponte Vecchio. Inmitten des geschäftigen Treibens konzentriert sich der Erzähler auf das vogelgleiche Zwitschern eines Mannes, der ähnlich einem Bauchredner Töne moduliert und pfeift. Dann ist es wieder eine Kathedrale in Sevilla, die Orangenbäume im Kreuzgang, die einem Nimmersatten "Augenfreuden" bereiten und den Schauenden bereichern. Und erneut Moskau samt "Babuschka-Sommer" und Ehrenwache, die längst nur mehr als touristische Attraktion fungiert, oder Vietnam und der Besuch der Markthalle oder des Revolutionsmuseums.

Eine Fahrt auf dem Nil weckt Assoziationen zur heimatlichen Donau, gesäumt von einem Gewebe reicher Auen und Nebel inmitten von Nilrosen -dies alles wird durchbrochen von "poetologischen Tricks", weil der Erzähler, wenn das "Schiffsdeck" bei der Betrachtung der "langsam vorbeifließenden Bilder" zur "Aussichtskanzel" wird, seiner Begleiterin mittels Teichoskopie die im Gedächtnis fixierten "Stillebenbilder" näherbringt. Sie im bequemen Streckfauteuil lauscht mit geschlossenen Augen den Ausführungen des "Nilfahrtbeschreibers".

Immer wieder kreuzt Schutting die kritisch reflektierten historischen, religiösen und mythologischen Spuren mit aktuellen politischen Ereignissen wie beispielsweise hier, wenn die Ägyptenreise zum Hatschepsut-Tempel führt und Soldaten mit Maschinengewehren Touristen an einer Stelle bewachen, wo "vor wenigen Wochen" Besucher "mit Genickschüssen" getötet worden sind.

Langsamkeit des Erzählens

Julian Schuttings Erfahrungen lesen sich nie als bloßer Reisebericht, sondern wandern ab in Geschichte und Tradition, setzen Assoziationen in Gang, ausladend, überlagert von einem dichten poetischen Bilderteppich wie einst die alten Ägypter ihre Sprache angereichert haben mittels "blumige[r] Metaphorik zur Förderung des Denkens in Analogien".

Daneben wächst ein durchaus sozialkritischer, politischer Blick aus den Seiten. Doch auch hier kultiviert Schutting die Langsamkeit des Erzählens -sich einfühlend in Bilder, Gegenstände oder kulturelle Denkmäler. Oft greift er singuläre, auch banale Momente heraus und schenkt ihnen besonderes Augenmerk - quasi als literarische Facette kontemplativen und reflexiven Reisens.

"Julian Schutting verleitet uns, sich auf Details, Zusammenhänge, Geschichte und Politik eines Landes, einer Stadt einzulassen und minutiösen Schilderungen Zeit zu schenken."

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