Vielleicht zählt Julian Schutting zu den leiseren Stimmen in der österreichischen Dichterszene, mit Sicherheit aber zu den wichtigsten. Davon zeugen nicht nur zahlreiche Preise und Auszeichnungen, sondern vor allem sein poetisches Werk selbst, das mittlerweile zu einer beträchtlichen Anzahl von mehr als 50 Büchern angewachsen ist. Der Literaturwissenschaftler Gerhard Zeillinger sieht ihn "neben Friederike Mayröcker" als den "letzten großen Sprachkünstler in der österreichischen Literatur", ja als "letzten wirklichen Dichter". Am 25. Oktober feiert Julian Schutting seinen 80. Geburtstag.
Man kennt ihn als feinsinnigen Autor und Stilisten. Die Ideen fliegen Schutting gewissermaßen im Gehen zu. Nicht umsonst macht er sich täglich auf den Weg; er geht, flaniert und wandert zwei bis drei Stunden durch die Stadt und deren Ausläufer. Texte entstehen somit in ihrer Vorstufe während des Unterwegssein, weil die Wahrnehmungen aus der Außenwelt direkt in seine Schreibwelt diffundieren. In seinem Band "Auf der Wanderschaft" spricht er explizit von diesen Stadt-Landexpeditionen und den Vorzügen des Gehens: "Wien ist zwar nicht auf sieben Hügeln erbaut worden wie jenes für Fußgänger unbequeme Rom, aber ein Hoch seinen eiszeitlichen Terrassen!"
Gedankenlos gehend und sich ganz seinen Wahrnehmungen hingebend, so schildert Schutting es, nimmt er Eindrücke mit, die dann zur Schreibgrundlage mutieren. Aber Wandern kann bei ihm auch kurios klingen: Man könnte "das Lebensgefühl der Landstreicher, sagen wir: der Biedermeierzeit", nachempfinden. Gratiskostproben auf Märkten und das Ausschauhalten nach "aus Obststeigen geglittenen Orangen und Äpfeln" bleiben aber nur ein "frivoles Gedankenspiel". Nichtsdestotrotz steht fest: "Je länger du gehst, desto mehr entgehst du der Bedrückung, die dich zuhause nur dann nicht erwartet, wenn du dich richtig ausgegangen hast, ohne Rücksicht auf die längst brennenden Fußsohlen." Gehen hält fit und entschlackt das Herz, das sich an der "Beschleunigung der Wald-und Wiesenbilder selbstvergessen erfreut".
Unkonventionelle Wege
Schon immer hat Julian Schutting unkonventionelle Wege beschritten. Das macht bereits ein Blick auf seine Jugend deutlich. Das Verhältnis zu seinem strengen Vater, einem Tierarzt und passionierten Jäger, war belastet, die Beziehung zur Mutter liebevoll. Unter seinen frühen Werken findet sich die Erzählung "Der Vater", die heute in die Väterliteratur der 70er-Jahre eingereiht wird. Viel später nimmt er in einer versöhnlicheren "Replik?" noch einmal Bezug auf dieses Werk, auf den "Nichtvater", der der "Familie wenig zugehörig und am Was-werden seiner Kinder uninteressiert", aber vor "dem Nazi-Ungeist" gefeit war. Seiner Mutter setzt er später aus der Perspektive des Abschieds mit seinem Buch "Der Tod meiner Mutter" ein berührendes Denkmal.
In seiner jüngsten, sehr persönlichen Prosa "Zersplittertes Erinnern" geht er "im [S]ich-jung-Denken" noch einmal zurück in seine Kindheitsjahre und reflektiert zentrale Erlebnisse aus der Kriegsund Nachkriegszeit. In einer Mischung aus Verspassagen und Prosa dokumentiert und kommentiert er als beinahe 80-Jähriger die Jahre in Amstetten, wo er als Jutta Schutting geboren ist und seine erste Schulzeit verbracht hat, aus dem Blickwinkel abgeklärter Distanz. Sein zur Gewalt und heftigen Zornausbrüchen neigender Vater, der die "Merseburger Zaubersprüche" oder das gotische Vaterunser rezitieren konnte, war unerschrocken in gefährlichen Lebenssituationen. Als seine Frau während des Krieges wegen "verbotener Unterhaltung /mit dem Feind" angezeigt wird, holt er sie sofort wieder nach Hause: "eins seiner Jagdgewehre an sich gedrückt, / so als ob das bis St. Pölten zu sehen wäre, brüllt und keucht er ins Telephon: /'Wenn meine Frau nicht zu Mittag zurück ist, / erschieße ich meine Kinder und dann mich!' -" In dieser Erinnerungsprosa thematisiert Schutting auch seine ersten kindlichen Schreibversuche, die strengen Strafen, Kriegsgräuel, das Fremdsenderhören, die Begegnung mit Flüchtenden und das Leben in Armut während der russischen Besatzungszeit.
Nach der sechsten Klasse verlässt Schutting das Gymnasium, um nach Wien auf die Grafische Lehr-und Versuchsanstalt zu gehen und dort eine Ausbildung zum Fotografen zu machen: "Das Handwerk der Photographie hast du erlernt, / bist dadurch mit damals neuer Kunst in Berührung / gekommen", heißt es in "Zersplittertes Erinnern". Nicht von ungefähr bezeichnet er sich der Presse gegenüber einmal als "Augenmensch". Als Fotograf habe er "das Schauen gelernt". Aber die Fantasie fehle ihm. Das sieht er auch als Grund für seine Weigerung, Romane zu schreiben: "Weil mir nichts lächerlicher vorkäme, als mir Figuren auszudenken. Für mich ist der Roman wie für Adorno längst zu Ende."
In vielen Gesprächen hat Schutting auch Auskunft über seinen Werdegang zum Schriftsteller gegeben. Ein Professor lässt ihm auf der Grafischen besondere Förderung zuteil werden und ermuntert ihn zum Schreiben. Schließlich holt er die Matura nach, studiert Deutsch und Geschichte und ist lange Zeit mit großer Freude, wie er immer wieder betont, als Lehrer tätig. Erst als Lesereisen ins Ausland und sonstige schriftstellerische Verpflichtungen es nicht mehr erlauben, habe er den Schuldienst aufgegeben. Als Zäsur in seinem Leben ist auch der Schritt seiner Geschlechtsumwandlung zu sehen, ein privates Kapitel, das für ihn schon längst abgehakt ist.
Blickt man heute auf sein Werk, so fallen die Heterogenität seiner Themen, seine große Vorliebe für alles Lyrische und sein experimenteller Zugang zur Sprache auf.
Vorliebe für alles Lyrische
Blickt man heute auf sein Werk, so fallen die Heterogenität seiner Themen, seine große Vorliebe für alles Lyrische und sein experimenteller Zugang zur Sprache auf. Verfremdung, Ironie oder fulminante sprachspielerische Transformationen gehören zu seinem Repertoire, auch eine intensive Auseinandersetzung mit anderen literarischen Texten und die Reflexion seines Schreibens und des Schreibprozesses. Kleist, Stifter, Thomas Mann oder Benn erwähnt er in Interviews einmal als seine Vorbilder. In den "Zuhörerbehelligungen", seinen Grazer Poetik-Vorlesungen, zeigt er, was mit Gedichten geschieht, wenn sie für andere zum "Spielmaterial werden". Was anhand intertextueller Analysen etwa an Goethes "Nachtlied" und Jandls Nachdichtung transparent wird, erprobt er selbst, zum Beispiel in seinem Lyrikband "An den Mond". Schillers "Nänie" oder Hölderlins "Abendphantasie" werden dabei zur poetischen Spielwiese. Sein Verständnis für Dichtung geht aus einer Reverenz für die Großen hervor: "Oder wären die wahren Gedichte / denn nicht die, deren Atem vergessen läßt, daß sie Reim-oder / Versvorschriften folgen? / In diesem Sinne orientiere sich /die Jugend, die formalistisch- / mathematisch geschulte, / an Goethes von Halbgott Eros /behauchten Gedichten, / an Schillers Nänie ..."
Schuttings Texte sind von Poesie, großem Sprachbewusstsein und oft auch leiser Ironie getragen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dem Thema Liebe, den "Herzbildern" im Rausch der Gefühle. Exemplarisch seien hier sein Lyrikband "Der Schwan" oder die "Nachschrift" zu seinem "Liebes-Nichtroman" "Die Liebe eines Dichters" erwähnt. Sinnliches Erleben, Kontemplation und Kontrasterfahrungen von Glück und Schmerz bildreich einzufangen und dabei erhellend Literatur, Musik, Reisen oder Philosophie in das eigene Textuniversum einzubinden, das alles gehört wohl zu Schuttings großen Stärken.
Seine Schaffenskraft ist ungebrochen -glücklicherweise! So spannt sich am Schluss der Bogen erneut zum Gehen. Mit der Langsamkeit des Erzählens forciert Schutting die Konzentration auf den Moment und die bewusste Wahrnehmung des Lebens. Dann "ruht die Zeit: steht still über die Zeit hinaus". Und klingt nach.
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