Jemand Wartet

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Ästhetisch hat die zeitgenössische Lyrik einiges zu bieten. auch reLigion ist bestandteiL Lyrischer sprach-und biLderweLten und "Leere, umgeben von worten" wird zur offenheit.

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Ästhetisch hat die zeitgenössische Lyrik einiges zu bieten. auch reLigion ist bestandteiL Lyrischer sprach-und biLderweLten und "Leere, umgeben von worten" wird zur offenheit.

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Aus: Trost (Moments musicaux)

Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? (Brief des Paulus an die Römer 8,24)

W enn ich am Abend liege, und die Ruhe dringt in mich wie Nässe in eine Schotterhalde,

kriechende Nebelwand aus dem Tal, wenn der Tag in einem Juckreiz in den Beinen endet und

der Arm aufragt, Wurzel einer Krüppelkiefer (die Entfernung jenes Innenraumes, wo ich

wiederhalle, zur Erde hat sich verändert, ich blicke auf einen Steilhang, tief unter mir

der Wald), wenn ich schwer bin wie der Geröllkegel einer lange zurückliegenden Lawine,

ahne ich, wie ich einen fremden Durst lösche, der nur durch mich gelöscht werden kann, und bin still.

Gedichte zählen im deutschen Sprachraum zu den gefährdeten Arten. Gerade werden dem Dauerpatienten weitere Schläuche gekappt. Wagemutige Qualitätsverlage verschwinden, oft kleinere Häuser; die großen treffen Richtungsentscheidungen und dünnen ihr lyrisches Programm aus. Als medial vermittelbar gelten längst nur mehr Romane, die, bitte schön, noch unterhaltsam sein sollen.

Möglicherweise leidet die Lyrik der Generation der 30-bis 50-jährigen Autoren unter ihrem eigenen Anspruch. Ästhetisch jedenfalls ist sie interessanter als das Meiste, was den Literaturbetrieb am Laufen hält. Mit allen Wassern bedeutsamer Theoriebildung gewaschen, zählen weit in die Breite hinein Konzentration und Komplexität zu ihren Vorzügen, dazu ein hoch reflektiertes Bemühen um Abbildung unserer Bewusstseinsund Wahrnehmungsstrukturen. Denkende Leser sind hier genau am rechten Ort.

Strukturelle Nähe

Im Nebeneinander von Text und Kontext -einmal aus der Außeneinmal aus der Innenperspektive -sind zwei ausgezeichnete neuere Bestandsaufnahmen erschienen. Die Sondernummer zur Gegenwartslyrik der Literaturzeitschrift "BELLA triste" hat in kurzer Zeit drei Auflagen erreicht. Während den poetischen Beispielen einzelner Lyriker hier jeweils der Essay eines Kollegen über sie gegenübergestellt wird, bietet die von Thomas Geiger bei dtv herausgegebene Anthologie mit den ausgewählten Gedichten Einblicke in den Reichtum der poetischen Werkstätten, über welche die Autoren selbst Auskunft erteilen.

Beide Male tritt zutage, dass nicht zuletzt die Religion wie selbstverständlich Bestandteil gegenwartslyrischer Sprachund Bilderwelten geworden ist. Grundsätzliches wird berührt, wenn etwa wechselseitige Affinitäten zwischen dem kreativen Prozess und religiösem Bewusstsein in den Blick geraten. Hier wie dort jedenfalls handelt es sich um die Vergewisserung möglicher Tiefenschichten von Wirklichkeit, in der Absicht, Realität gleichsam Subjekt-los wahrzunehmen ebenso wie nachgerade durch das Insistieren auf spezifische Befindlichkeiten des Subjekts.

Für die in Wien lebende Dichterin Anja Utler ist das Gedicht so "ein Ort akuter Gegenwart", reale Präsenz, und Franz Josef Czernin, mit Jahrgang 1952 deutlich der Senior unter den Beiträgern, verweist auf das Paulus-Wort vom "dunklen Spiegel". Das Gespür für diese strukturelle Nähe kann selbst den Glaubensvollzug einschließen: "Gebete und Gedichte richten sich an etwas", parallelisiert Hendrik Rost, "wovon der betende, dichtende Mensch nicht mehr weiß, als der Glaube, die Phantasie es zulässt."

Eine Stimmung der Endlichkeit durchzieht vielfach diese Texte, nicht nur bei Silke Scheuermann, Uljana Wolf oder Ulrike Almut Sandig: Kein Wunder, dass "die sog. letzten fragen" (Daniel Falb) daher virulent bleiben, Erinnerungen an "das Antlitz (...) christlicher Verheißung" (Durs Grünbein) nicht minder. Häufig bietet die kulturelle Tradition Gelegenheit, davon zu sprechen, um nur Nico Bleutge oder den verstorbenen Thomas Kling zu erwähnen, eine der Leitfiguren der Szene; manchmal sind es auch eigene Erfahrungen (Lutz Seiler).

Die entsprechende Semantik kann verschlüsselt sein, zuweilen ironisch, ja schnoddrig (Ulf Stolterfoht, Steffen Popp, Nora Bossong), oder kritisch grundiert (Ulrike Draesner, Sabine Scho). In Hendrik Jacksons "Anmerkung zu Jona" wird der "unsterbliche Stursinn" gerühmt, der nach "Zeichen" Ausschau hält, die über die "Immanenz" hinausgehen. Schon in einem früheren Buch hatte dieser Autor mit einer ins Transzendente ausgreifenden Entgrenzung der Sprache experimentiert, die er in Anlehnung an Thomas Müntzers Umgang mit dem Psalter "brausende bulgen" nannte. Monika Rinck zitiert Psalm 22, bei Jan Wagner gerät die Arche in den Blick. All dies ist auch eine Erinnerung "gegen den Dreck der Alltäglichkeit" (Marion Poschmann).

Spuren der Geschichte

Über die beiden Bände hinaus wäre die Reihe ergänzbar, ob durch die Deutschen Norbert Hummelt oder Dirk von Petersdorff, die Schweizer Raphael Urweider oder Armin Senser, die Österreicher Raoul Schrott oder Peter Waterhouse, Ferdinand Schmatz oder Franzobel. Uwe Tellkamp bringt die Situation kurz auf den Punkt: "Totgesagte leben länger; heute sind das Liebe und Gott. Und die Lyrik." Am nachdrücklichsten von allen aber wird dieses treffliche Bonmot durch das Werk von Christian Lehnert ins Recht gesetzt. Zumal was die Legierungen von lyrischem Sprechen und Gottesbewusstsein anbelangt, kommt keiner ihm gleich.

1969 in Dresden geboren, hat Lehnert seit 1997 fünf feine Gedichtbände veröffentlicht. Sein Libretto zu Hans Werner Henzes Oper "Phaedra" - die Zusammenarbeit ist in einem gemeinsamen Tagebuch dokumentiert - weist bemerkenswerte Kompetenz für das Genre des lyrischen Dramas aus. Gern wünschte man sich von ihm weitere Impulse in diese Richtung. Lehnert war Gemeindepfarrer im sächsischen Müglitztal und arbeitet heute als Studienleiter in der Evangelischen Akademie Wittenberg.

Biografische Erinnerungen unterfüttern alle seine Bände: es sind die eines Wehrdienstverweigerers -daher Bausoldaten -in einem zerfallenden Staat. Spuren der blutigen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts scheinen auf, ebenso Ohnmachtserfahrungen einer späten Moderne: Zufälligkeit und Fremdbestimmung, die Überwältigung durch eine unablässig beschleunigende Zivilisation, der Abschied von dem, was einmal "Ich-Identität" hieß.

Kunstvoll rhythmisiert

Zu bewundern sind Lehnerts Gedichte allein schon ihrer Intelligenz wegen. Kunstvoll rhythmisierte Spannungsbögen in einer Sprache, die oft unterschiedliche Sinnbereiche überblendet, korrelieren mit strenger formaler Disziplin. Für zyklische Kompositionen hat er eine Vorliebe, auch in Terzinen, wenn es sein soll, und selbst die tüfteligste Form aus dem Traditionsbestand westlicher Lyrik, den so genannten Sonettkranz, stemmt dieser Dichter souverän.

Einen Gegenpol dazu bilden Anverwandlungen klassischer Kirchenlieder, in denen Lehnert neben der Faszination durch die "Fremdheit der alten Sprache" Dissonanzen erkennt, welche die Gegenwart zu beunruhigen vermögen. Ein beträchtliches Widerstandspotenzial gegen letztere ist seinen Gedichten deswegen eigen, weil sie es verstehen, Worte und Bilder buchstäblich "aus der Stille heraufsickern" zu lassen. Anders ausgedrückt: Sie sind aufgeladen mit spiritueller Energie.

Dementsprechen zentral ist die thematische Gewichtungen. Auffallend oft kehrt etwa das Motiv des sinnlichen Aufgehens der Wahrnehmung in einem Wahrgenommenen wieder, das der Dialektik von Nichts und (Seins-)Fülle, oder das der Ausfahrt bis zum "finis terrae", dem Ende der bekannten Welt, welches auch das der Sprache bedeutet, auf dem alten europäischen Pilgerweg. Dabei ist es bei ihm stets die konkrete Anschauung, die eine intellektuelle Bewegung in Gang setzt: "Ich suche diese Punkte, wo das Sehen nach außen sich trifft mit dem Sehen nach Innen." Seine metaphysischen Grabungen sind nicht ortlos. Immer wieder kommen sie auf den geografischen Schnittpunkt der drei großen monotheistischen Glaubensbekenntnisse zurück. Die archaische Welt ist sowohl unvertraut wie Ort einer aufscheinenden Einheit von Wort und Sinn im Zeichen Gottes. Allgemein gilt, was der Dichter zu seiner Kontrafaktur von Luthers "Ein feste Burg" notiert: "Er fehlt: ER", aber auch: "ER ist anwesend als Abwesender."

Gern lässt Lehnert Räume der Einsamkeit anklingen, lebensferne Zonen etwa oder Grenzbezirke im Zwielicht - mit Blick auf den Glauben des Paulus etwa die Situation von Vigilien -, um klar-sichtiger und hell-höriger zu werden. Dort ist es auch, wo Bilder göttlicher Schöpfungsfrühe und menschlicher Anfänglichkeit sich einstellen. Dieser Vorgang ist gleichsam anamnetisch: Im Zyklus "bruchzonen" verläuft seine Bewegung "wie ein vergessener name hinab in / das gedächtnis eines vagen ich bin, der ich bin", der jüdischen Selbstbezeichnung Gottes also. Ein semantischer Vorbehalt, der sich gegen letzte Gewissheiten sperrt, ist jedoch immer mitzubedenken. Lehnert überspringt die religiöse Problematik der Gegenwart nicht einfach gesinnungstüchtig. Angesichts unseres Wissens sind und bleiben wir Angefochtene. Nicht auf religiöse Gewähr wird daher gepocht, sondern verwiesen auf ein Anderes, Größeres, dem gegenüber man unmöglich gleichgültig bleiben kann, das Wort zugleich herausfordernd und überschreitend.

Sinn-Rätsel Gott

Lehnert besteht auf dem fortdauernden Sinn-Rätsel, das Gott ist und das der Mensch ist, weil beide offenbar aufeinander bezogen bleiben. Dem Weg Jesu nach Golgotha, welchen sein Zyklus "passio" in bedrückender Großartigkeit aufruft, kommt hier eine besondere Wertigkeit zu. Mit ihm gipfelt daher auch der Sonettkranz "Lichteinfall" im abschließenden Königssonett, das aus den Anfangszeilen der vierzehn vorhergehenden Texte besteht: "Wie Nägel in den Gliedern Gottes, Streben / in einer Höhlung, die verschlossen ist: / siehst du ein Ur-Herz, Zellen? Sie ergeben / den virtuellen Raum, in dem du bist", mit dem Finale: "Indem das Kreuz die Stricke weiter zieht, / wird es zum Fluchtpunkt, Tiefe einer Skizze ..."

Ein wenig gemahnt das Verfahren, das Lehnert anwendet, an solche der mystischen Tradition. Wie ein verborgener Selbstkommentar liest sich jedenfalls, was er über ein Gedicht des barocken Ekstatikers Angelus Silesius schreibt: Es gehe darum, "die Fragmente frühester Erinnerung mit den Fraktalen der Wahrnehmung zu verbinden - ein Klanggewölbe für die Stimmen der poetischen Mystik". Poesie wie Mystik aber, geben sich nicht mit der Logik aufgeklärter Alltagsvernunft zufrieden, sondern zielen auf den Raum eines Geheimnisses, das wahrhaft ein-leuchtet. Hierin besteht beider Erkenntniswert: Verborgenes erahnbar zu machen und an die Grenze von Bereichen vorzudringen, wo das Nicht-,jedenfalls das nicht auf konventionelle Weise Sagbare anfängt. Oder, mit den Worten von Christian Lehnert: "Dass Leere, umgeben von Worten, zur Offenheit wird. Jemand wartet. Das ist der Augenblick des Gedichtes."

Aus: Trost (Moments musicaux)

Dann fand ich den alten Wollpullover wieder: Die Fraßlöcher sind weder zufällig verstreut

noch folgen sie einer Regel. Meine Sterne, früher, sahen ihnen ähnlich, Bohrungen ins

Himmelsgewölbe. Diese nächtliche Strenge, Druck, unter dem sie sich verformten und Namen

empfingen: Kassiopeia, Orionnebel. Gebilde, die sich voneinander entfernen:

Ich begrub den Himmel unter Mottenflügeln. Sprechend spüre ich, dass mein Kopf ein Kokon ist.

Er birgt eine Larve, die ihre Gestalt sucht: Ihretwegen gibt es die Präposition Gott.

Hans-RüdigeR scHwab war Dramaturg am Schauspielhaus Zürich und Leiter der Redaktion "Kunst und Literatur" beim Bayerischen Fernsehen. Seit 1996 ist er Professor für Ästhetik und Kommunikation an der KFH Nordrhein-Westfalen, Abt. Münster. Zahlreiche Veröffentlichungen und Herausgeberschaften, zuletzt "Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert." 39 Porträts. (2009)

Erstveröffentlichung Christian Lehnert stellte zwei bisher unveröffentlichte Gedichte für dieses BOOKLET zur Verfügung (Seite 6 und 9).

Gedichte von Christian Lehnert: Auf Moränen Suhrkamp 2008.126 S., geb., 17,30

Ich werde sehen, schweigen und hören Suhrkamp 2004.97 S., kart., 7,80

Finisterre Edition Korrespondenzen 2002 80 S., geb., mit CD, 19,50

Der Augen Aufgang Suhrkamp 2000.102 S., kart., 10,30

Der gefesselte Sänger Suhrkamp 1997.92 S., kart., 6,50

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